REISEN
Verweile nicht, und sei dir selbst ein Traum.
Und wie du reisest, denke jeden Raum!
Bequeme dich dem Heißen wie dem Kalten:
Dir wird die Welt - du wirst ihr nicht veralten!
(Goethe, Paralipomena zum "West-östlichen Divan", mir von meiner Mutter aufgeschrieben)
Viele an Reisen interessierte Menschen wollen zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich Reisen außerhalb Europas leisten können, auch Familien gründen, und auf deren Reisemöglichkeiten soll daher zunächst kurz eingegangen werden; meine Frau und unsere beiden Kinder, Tochter und Sohn, sind mit mir gefahren; aber auch von Reisen, die ich allein gemacht habe, sollen einige Begebenheiten erzählt werden.
Das Reisen in die „Dritte Welt“ mit Kindern zwischen 5 und 12 Jahren (ihre Gesundheit ist in diesem Alter fast stabiler als zwischen 13 und 17) ist für diese eher weniger schwierig als für die Eltern, kann aber für naturgemäß besorgte Mütter belastend sein – und das hat meine Frau verdienstvollerweise auf sich genommen. Spielsachen, Lektüre, entsprechende Kleidung, auch leichtes Regenzeug, eventuell Leinenschlafsäcke, kaum mehr eigene Moskitonetze, jedenfalls aber Medikamente sind natürlich mitzunehmen (letztere ohnehin; die Vorsichtsmaßnahmen beim Essen und Trinken sowie Impfungen sind ja bekannt – heute auch bei Kindern nicht erschwerend).
Nach Statistiken aus dem Internet ist Reisen in Indonesien ca. 7x weniger gefährlich als das in Österreich völlig akzeptierte alpine Skifahren (dessen Anzahl tödlicher Unfälle immerhin die Hälfte der Zahl der Verkehrstoten erreicht), Bergwandern und Langlauf sind gleich (un)gefährlich; Reisen in Indien ist ungefähr so gefährlich wie (Alpin)skilauf, Reisen in Kenia ist doppelt so gefährlich. Reisen in Lateinamerika sind allerdings seit unserer Zeit dort mindestens in gewissen Ländern viel gefährlicher geworden (bis zu 3x höhere Raten als Kenia, abgesehen von Guerrillazonen).
Außer bei einzelnen Ausflügen (z. B zu einer verlassenen Goldgräberstadt in Nevada) und einer Busrundreise im östlichen Südafrika sind wir nie in Gruppenreisen gefahren; die Reisen mit der Familie habe ich aber vorher genau organisiert, Hotels aus Verzeichnissen gesucht und bestellt, ebenso Bahn- und Buskarten, wenn möglich; in Westafrika (Bahn in Benin) waren dabei die Fahrten mit den Sammeltaxis einfacher als ich dachte, in Indien halfen uns Reiseagenturen mit den Bahnkarten (1. Klasse gut), in China die guten Hotels (will man deren Extrakosten einsparen, so muss man für die Wartezeiten an den Bahnhöfen insgesamt einige Tage mehr Aufenthalt bezahlen); für die USA kauften wir vorteilhaft Busgutscheine schon in Wien bei der Greyhound-Agentur, für Skandinavien nicht ganz so teure Bahngutscheine ebenfalls in Wien, für die Karibik (teuer) und Brasilien verbilligte Flugkarten auf einer vorher festzulegenden Gesamtroute, wobei die Flugzeuge in der Karibik wie auch dann die zwischen einigen pazifischen Inseln herrliche kleine einmotorige Propellermaschinen waren, die in Brasilien die luxuriösesten; dort waren auch die Fernbusse luxuriös, am besten aber die argentinischen; die bestorganisierten Buslinien hatten Chile und Neuseeland (bis in die achtziger Jahre auch die USA gut, so wie Kanada und Australien noch heute), die schlechtesten Indonesien und die Andenländer (Peru, Bolivien, wo auch die Züge sehr unzuverlässig); ganz gut die Bahn in Thailand und Malaysia (und Indien, China), luxuriös der „Blue Train“ in Südafrika (in den achtziger Jahren noch kein Extrazug für Touristen), toll natürlich die Schnellzüge Japans; dort sind die Schlafzimmer der billigeren (immer noch teuren) „Ryokans“, der Hotels im japanischen Stil, im Frühling, also bei oft kühlerem und nassem Wetter, ziemlich ungemütlich; wie in Indien hat die Qualität (übrigens auch der Züge, in Japan immer noch auf hohem Niveau) in den 25 Jahren seit den ersten Reisen (1979/80) etwas nachgelassen.
In Iberoamerika außer Chile und Argentinien sowie in den bereisten Ländern Afrikas (außer – noch immer? – Südafrika) und Asiens außer Japan und Singapur schienen uns nur ausgesprochen gute Hotels zumutbar, und zwar vor allem, man in drittklassigen wegen des Ungeziefers usw. erkranken kann. Derartige Reisen sind im übrigen nicht gefährlicher als dauerndes Autofahren und kosten auch nicht mehr als ein Auto und „normale“ Urlaubsreisen; dennoch haben viele Leute den Eindruck, sie seien weniger gerechtfertigt als andere Hobbys.
Auch unsere Kinder sollten fremde Länder, die Lebensweise und die Probleme der Leute dort sehen. Da ich wusste, dass Kinder ab ca. vierzehn Jahren gewöhnlich nicht mehr gerne mit Eltern reisen, freute es mich natürlich, dass sie für Reiseeindrücke aus Asien und Afrika durchaus schon mit sechs Jahren empfänglich waren. Als unser Sohn mit vier Jahren von den USA zurückkam, antwortete er auf die Frage, wie es denn dort sei: „Na ja, ich weiß nicht ganz, – ich war erst einmal dort!“. – Er war inzwischen wieder in den USA und (allein) in Mittelamerika und Jamaika (Musik! Rastas), abenteuerliche und bildende Reise, auch herzensbildend, hat dabei großartige Fotos gemacht, die seine unkonventionelle, realitätsnahe Art des Reisens spüren lassen, ohne deshalb „Kulturelles“ (Architektur, Museen) zu vernachlässigen. Junge Eltern müssen also mit solchen Reisen nicht lange warten.
Gewöhnlich versuchte ich, vor Reisen in anderssprachige Länder etwas von den dortigen Sprachen zu lernen und von ihrer Literatur zu lesen. Zu beidem hielt ich auch die Kinder an, die zwar die Sprachlektionen lustig fanden – wir haben noch Tonbandaufzeichnungen, wo sie eifrig italienische Wörter üben, und unsere damals elfjähriger Sohn zur portugiesischen Tilde sagt, „das ist ja eine Augenweide“, – mir aber die „Ermunterung“ zur Lektüre etwa tschechischer Kurzgeschichten (in deutscher Übersetzung) übel nahmen, wie ich mir dummerweise erst später zugab. Da waren Werke, die Reisen oder das Leben in fernen Ländern beschrieben, schon besser.
Das waren für mich vor allem, neben den Reiseführern: Ibn Battuta (dessen „mittelalterliche“ Reiseberichte die Grausamkeit der Herrscher des Nahen und Mittleren Ostens zeigen), Magellans (von Pigafetta verfasst) und Cooks sowie G. Forsters und A. v. Chamissos Berichte über die von ihnen mitgemachten Entdeckungsfahrten besonders im Pazifik; die starren Konventionen seine Bewohner untersuchte die amerikanische Verhaltensforscherin C. A. Lutz mit Empathie, und der berühmte R. L. Stevenson gibt uns ein poetisches Bild ihres Lebens im 19. Jahrhundert; jetzige Verhältnisse dort skizziert P. Theroux, der auch gut über Mittel- und Südamerika sowie Bahnfahrten in aller Welt schreibt.
Das alte Japan beschrieb sehr gefühlvoll Lafcadio Hearn (auch die französisch-kreolischen Antillen), das moderne ein gutes Sachbuch des Amerikaners Reischauer. (Überhaupt ist aus der Sekundärliteratur große Sensibilität von Amerikanern zum Thema Japan zu ersehen.) W. Somerset Maugham erzählt ernsthafte Anekdoten über seine Aufenthalte in China und Malaya, welches bekanntlich in Joseph Conrads Erzählungen vortrefflich charakterisiert wird; zu Malaya nach dem 2. Weltkrieg ist A. Burgess besonders interessant. G. Mak schrieb kritisch über seine holländische Heimat und Niederländisch Indien, heute Indonesien; das Regime der Holländer dort im 19. Jahrhundert wird in „Multatuli“, dem Bericht eines niederländischen Beamten, verzweifelnd angeklagt, die holländische Autorin Lulof gibt von der dortigen Kolonialgesellschaft vor dem 2. Weltkrieg ein präzises Sittengemälde. P. Rindl verfasste politologische Darstellungen über Indonesien nach dem 2. Weltkrieg, auch über Malaysia und Japan. Von ihren Reisen in Australien berichten informativ L. Christmas und (überdies sehr humorvoll, wie auch über die USA) B. Bryson.
Vom Alltagsleben in Kalkutta schreiben Blaise & Mukherjee sowie Allen über Britisch-Indien.
P. Leigh Fermor ist in seinem Reisebuch über die Karibik noch überzeugender als in dem über Mitteleuropa.
G. Greene äußert sich weniger extravagant als sonst über Westafrika (vor und im 2. Weltkrieg), E. L. Harris zum Kulturkonflikt, den ein Schwarzer aus den USA (der eben kein „Afro-Amerikaner“ ist) in Westafrika erlebt, P. Decraene und R. Gauthereau schreiben gute Sachberichte zu den dortigen „frankophonen“ Ländern, sehr persönlich darüber der Dichter Le Clézio („Der Afrikaner“: sein Vater). A. Gide veröffentlichte in den dreißiger Jahren seinen Reisebericht über Zentralafrika, der zu Reformen Anlass gab. Über Wanderungen in Nyassaland (heute Malawi) ist L. van der Post sehr eindrucksvoll, über die Probleme im heutigen Ost- und Westafrika: P. Marnham (auch gut über Mexiko und Mittelamerika).
Sehr „wertschätzend“ über Ostafrika: J. Jahn, gewohnt eigenwillig und doch treffend darüber der englische Schriftsteller Evelyn Waugh, auch über Guyana.
Der berühmte Tocqueville analysiert im 19. Jahrhundert die USA, Lundberg „Die Reichen und die Superreichen“ dort heute; sehr sachliche, hochinteressante Berichte von den Indianern in Kanada verfassten im 18. Jahrhundert die französischen Jesuiten.
Fürst Pückler-Muskau, der Gartenmäzen des 19. Jahrhunderts, kritisierte in seinem Reisebericht aus Irland die britische Politik des Aushungerns gegen die Katholiken; P. Renier analysiert die Verhaltensstörungen „der“ Engländer, A. L. Morton, E. P. Thompson und B. Wilson verfassten besonders gute Sachbücher über England und Ortega y Gasset lesenswerte Charakteristiken von spanischen Regionen, sowie S. de Madariaga eigenwillige politisch-philosophische Betrachtungen zu Spanien, Gissing (empfindungsreich über den Süden) und G. Piovene (in einem der guten Länder-Sachbücher des Piper-Verlages) über Italien.
Inzwischen gibt es auch einige Bücher über die deutsche Kolonialzeit in Afrika und dem Pazifik und viele Sachbücher über die „Dritte Welt“, dabei besonders erwähnenswert N. Barley, der humorvoll über anthropologische Forschung schreibt, und – die vorherrschende negative Meinung betreffs Missionen in Detailstudien korrigierend – „Conversion“ (hg. Mills und Grafton).
Abseits dieser doch immer auch genussvollen Lektüre, aber mindestens ebenso kennenlernenswert: O. Roy über die zentralasiatischen (ehemal. Sowjet-)Republiken und "Rich Russians" von E. Schimpfössl.
Natürlich war außerdem die Literatur der zu besuchenden Länder von Interesse: Romane und Erzählungen wie die von Icaza und Argüedas über das harte Leben in den Hochebenen der Anden, G. Ramos über den ausgetrockneten Nordosten Brasiliens; aus Afrika schreiben Ikelle-Matiba über das Leben während der Kolonialzeit – inklusive positiver Aspekte −, Achebe über die Anpassungsschwierigkeiten eines aus Europa heimgekehrten Studenten (vor allem an die heimische Korruption), Mphalele über das Leben in den „townships“, P. Abrahams über das der Bergleute im Südafrika der Apartheid, die berühmte D. Lessing charakterisiert die Begegnungen sensibler Weißer mit Afrikanern, der zu wenig bekannte W. Plomer stellt uns gekonnt ironisch Szenen aus dem Leben weißer Farmer vor; und Sembène Ousmane attackiert die afrikanische Oberschicht nach der Unabhängigkeit in Westafrika, Ngugi wa Thiongo jene in Ostafrika; R. Heath schreibt lebhaft und interessant über seine Kindheit in Guyana, B. Lamb über ihre in Belize, F. M. Arion über das Politikermilieu auf den Niederländischen Antillen, J. Métellus sehr gut über das auf Haiti; pessimistisch und treffend auch die beiden Naipaul zu den Antillen, Ostafrika, Indien; über die indische Gesellschaft geben die Romane von Anand und Premchand sehr kritische Einsichten, N. Chaudhuri lobt den europäischen Einfluss. Dieser wird für das Birma (Myanmar) vor der Unabhängigkeit von M. M. Lay psychologisch einfühlsam in „Not Out of Hate“ dargestellt.
Von großem Interesse sind chinesische (Ba Jin, Mao Dun) und japanische (Niwa, Kita, Shiga) Prosawerke (in Übersetzung), sowie Filme: besonders gut bekanntlich die japanischen, über das Alltagsleben die von Ozu. A. Wendt stellt Konflikte in der traditionellen Gesellschaft von Samoa dar. R. Lemelin schließlich gibt uns Einblicke in das frankophone Kanada, H. McLellan in die Gegensätze zwischen diesem und dem anglophonen Kanada. X. Herbert schrieb sehr gut über den heißen Norden Australiens, Lawler und Seymour über modernere Probleme im städtischen Leben dort, D. Davin zur spezifisch urbanen Entfremdung in Neuseeland. − Natürlich gibt auch die Malerei Einblicke in das Leben der Länder, und einzelne Filme aus Lateinamerika, Westafrika, Tunesien, Ägypten und der Türkei, dem Iran und besonders Indien.)
Zur bekannten Scheu von „Eingeborenen“ vor dem Fotografiert werden; gewöhnlich als „rückständig“ belächelt, ist sie doch nicht ganz so unbegründet: was sehen wir eigentlich unmittelbar mit dem Auge, wenn nicht die gleichen vom gesehenen Gegenstand reflektierten Lichtstrahlen, die sich auch auf dem Foto eingebrannt haben – und beim Ansehen von Fotos treffen die wiederum reflektierten Strahlen unser Auge. Wer also ungern angestarrt wird, könnte auch verstehen, dass (anderswo) auch das Anstarren „durch“ Fotos Missfallen auslöst, und sogar Angst, wenn man bedenkt, dass die von der fotografierten Person zurückgeworfenen Strahlen auf dem Foto dauerhaft fixiert sind...Zugleich begründet die Tatsache, dass wir, in einem bestimmten Augenblick, auf Fotos für „ewig“ festgehalten sind (im Foto befinden wir uns „innerhalb“ des Augenblicks, dessen Grenzen aufgehoben sind – eine Befindlichkeit, die übrigens auch ein Grund für die Verwendung des Imperfekts statt des Perfekts in romanischen Sprachen zur Darstellung einer „von innen“ gesehenen Vergangenheit ist), das Prestige des Fotobandes, der in den europäisierten Wohnungen besser gestellter Afrikaner auf dem Tisch des Empfangszimmers liegt und vom Freund angesehen werden soll, auch um die (auf den Fotos präsenten) Ahnen zu ehren (und abwesende Familienmitglieder zu „grüßen“)...auch vom Gast, der ja in diesen Ländern per definitionem „gut“ ist, ja segensreich für den Gast g e b e r . (Früher haben sich angeblich in einigen katholischen Gegenden die Leute bekreuzigt, nachdem sie einem Bettler etwas gegeben hatten, denn so waren sie ja Christus im „Geringsten seiner Brüder“ begegnet; in Spanien bedankte sich der Geber beim Bettler.) – Abgesehen davon sind ja Fotos auch immer als lebhafte Dokumentation interessant.
Zu den exotischen Zeremonien wäre zu bemerken, dass diese ja den Menschen dort normal vorkommen, nicht in sich so beeindruckend wie dem außenstehenden Beobachter; dieser neigt daher auch zu dem Irrtum, das Äußerliche sei für die Gläubigen die Hauptsache. Schon unter Christen machen Protestanten diesen Fehler, wenn sie annehmen, Katholiken knieten vor den Statuen „als solchen“: die Statuen existieren ja überhaupt nur, weil sie Bilder sind, durch die (hindurch) der Fromme zu Gott betet. Das sollte man m. E. auch für „Götzenbilder“ annehmen, ohne deswegen alle religiösen Vorstellungen anderer zu teilen.
In ähnlicher Weise sollte man sich von den exotischen Äußerlichkeiten etwa tibetischer Frömmigkeit weder bezaubern lassen noch sie verachten, sondern durch sie hindurch sehen, wie es der dortige Gläubige tut, für den jene Zeremonien normal sind; dann wird man Praktiken wie die „Gebetsmühle“ besser verstehen, welche ja nicht so charakteristisch für die dortige Frömmigkeit ist, wie es uns scheint (und wie uns übrigens irrtümlich auch die Tatsache, dass z. B ein Italiener Italienisch spricht, als eine seiner wichtigsten Eigenschaften erscheint), sondern ein Hilfsmittel, das die dortige Gemeinschaft überein gekommen ist zu benutzen, wenn für individuelles religiöses Gefühl keine Gelegenheit ist, eben etwa auf dem Weg: auch da will man Gott preisen und stößt dafür einen drehbaren Zylinder an, so dass die auf ihm geschriebenen Worte rundum bewegt, aktiviert werden, vor allen im Umkreis befindlichen Teilen der Schöpfung Gottes wie gesprochene Wörter hintereinander aufscheinen, und so Gott in jedem Moment angebetet werden kann, unabhängig von der momentanen Situation des Individuums; dieses kann also immer, auch während großer Ablenkung, ein Zeichen seiner Religiosität geben – ein wenig wie es uns im Stoßgebet ermöglicht wird, etwa durch den (nicht unbedingt lauten) Ausruf „Jesus Maria!“– und wer will sagen, dass die Gottheit solche Zeichen verschmäht? Behauptet man, nur die (relativ seltenen!) ausführlichen, „innerlich echten“, d.h. selbst vom Individuum als solche empfundene Gebete seien gottgefällig, so folgt man nur neuzeitlichen (west)europäischen Vorstellungen, die zweifellos ebenso berechtigt sind wie andere, deren relativ hohes Prestige bei uns (und davon hat ja der Protestantismus sehr profitiert, eine moderne Bewegung des Westens) aber mehr auf hiesigen „kulturellen Moden“ beruht als auf einer „objektiven“ Überlegenheit.
Hinsichtlich nichtchristlicher Religionen sei zur Abwechslung einmal auf positive Wirkungen christlicher Missionierung hingewiesen: es kann ein Segen für die indischen „Unberührbaren“ sein, nicht mehr als religiös absolut minderwertig zu gelten, für Animisten, keine Angst mehr vor tödlichem Zauber zu haben, für Japaner, bei schweren Fehlern oder Loyalitätskonflikten auf himmlische Barmherzigkeit hoffen zu können, anstatt von der Nichtachtung durch die eigene unerbittliche Gesellschaft bis zum Selbstmord getrieben zu werden.
Manche Vorurteile, besonders gegen Süd(ost)europäer, Südamerikaner und Afrikaner verstärken sich gerade durch Aufenthalte in ihren Ländern, die dem Reisenden durch die Nachlässigkeit der Bewohner und Mängel in der Infrastruktur erschwert werden; da ist es nützlich, sich den Verfall etwa der Deutschen Bahn vor Augen zu halten, der seit der Verringerung der finanziellen Mittel (zugunsten privater Großunternehmer anderer Bereiche) und damit des Personalstandes stattgefunden hat; Tugenden wie die deutsche Pünktlichkeit gehen in dieser Wirtschaft unter, und ähnlich dürfte es mit anderen „Nationaleigenschaften“ stehen.
Was schöne Landschaften betrifft – eine umstrittene Hervorhebung; interessant waren für mich alle Landschaften, „weil sie da sind“ − kommt mir Europa vor den anderen Erdteilen besonders reich daran vor; am Meer haben mir Wangerooge, die südenglische Küste – englische Landschaften überhaupt, aber auch Architektur und Lebensart in England sind ja wirklich sehr idyllisch für den Besucher, und die Parks, die Gärten! – San Sebastián und Santander, Trégastel (Frankreich), Teile der Riviera (Alassio, Lerici) und der Cinque Terre sowie Teile Istriens (Abbazia/Opatija), Cavtat (südlich von Dubrovnik) und Korfu am meisten zugesagt; Südtirol ist ja bekannt für seine Landschaften. Außerhalb Europas fand ich Teile Zentralmexikos, Südwestindiens (Kerala), Sri Lankas (die südwestliche Küste, das südliche Hochland), Malaysias (George Town/Penang), Indonesiens, Taiwans, Japans, Kaliforniens und der amerikanischen Ostküste, der südafrikanischen Kapprovinz, die Kanarischen Inseln sowie Madeira, Moorea und die Umgebung von Rio besonders malerisch, auch kleine Teile Australiens (im Südosten und bei Perth), während der amerikanische Nordwesten, auch die Umgebung von Vancouver und Victoria, der Osten der kanadischen Provinz Quebec, Tasmanien und die Südinsel von Neuseeland bei aller Schönheit für mich zu menschenleer sind, der Süden Chiles und Argentiniens zu wild. (Teile der Philippinen, Thailands, Vietnams, Kubas und anderer Antillen-Inseln, Mittelamerikas, Ostafrikas sowie die Seychellen und Malediven sollen ebenfalls sehr pittoresk sein, und einige Leser werden wohl das und anderes kennen und bevorzugen.) – Für den Genuss eines Sommerurlaubs würde ich außerhalb Europas die Strände von Hawaii und Mauritius sowie eventuell die amerikanischen Jungferninseln empfehlen. Zu den angenehmsten außereuropäischen Aufenthaltsorten, nicht „bloß“ schönen, die ich kennenlernte, gehören San Francisco und Umgebung, sowie noch Pondicherry und Réunion, letztere etwas abgelegen, wie es mir auch an vielen anderen von Europa weit entfernten Orten vorkam.
EUROPA
Mutterland Deutschland
Nur so viel zur „Berliner Schnauze“: Als ich in Berlin einmal in einer Imbißstube zwei Tassen Kaffee zugleich bestellte, fragte die Kellnerin: “Warum denn das?“ Ich antwortete, so sei dann wenigstens die zweite Tasse nicht mehr zu heiß. Sie lachte mich aus. „Stellt euch vor,“ rief sie den Stammgästen zu…und wiederholte mein Ansinnen. „Na, lass ihn doch!“ entgegnete ihr einer von ihnen, „is ja gar nich so doof!“ – „Wa-as, du fällst mir in den Rücken?“ schrie sie belustigt. Auch ich musste grinsen, als ich mich von dem Schreck erholt hatte.
In Holstein nahm ich einmal Quartier in einem schönen alten Gasthof in Glückstadt, dessen Wirt sich beim Abendessen als der Leiter des Heimatmuseums herausstellte. Erfreut spendete er mir unverdientes Lob als Österreicher, denn nach dem sogenannten Deutsch-Dänischen Krieg, als Holstein eine Zeitlang von Österreich besetzt war, habe der Kommandant der österreichischen Truppe in der Stadt den versandeten Hafen gesehen und gesagt: „Das kann ja wohl nich angehn!“ und ihn von seinen Pionieren ausbaggern lassen – wovon man heute noch profitiere.
IBesonders in Mittel- und Süddeutschland gibt es idyllisch gebliebene Städtchen. So fährt man beispielsweise mit Regionalzügen durch hübsche hügelige Landschaften zu der kleinen Residenzstadt Waldenburg, dessen Silhouette auf einem Bergsporn über das Land ragt: oben am spitzen Ende die Burg, nach einem Platz mit (überall hier) alten Häusern in schönem braunen Stein (darunter das Hotel) eine Verengung vor oder nach der Kirche (und Kapelle?), über die mich ein freundlicher Pastor informiert: Ausstellung mit Hinweisen auf die sehr aktive NS-Zeit hier, überraschend für einen so abgelegen-adligen Ort? Rundgang unter den Mauern auf Pfad im Grünen (kleine Gärten und Buschwerk) mit Fernsicht auf das besonnte Land.
Oder, wieder in kleinen Zügen, durch idyllische grüne Landschaft nach Weikersheim, durch einige verwinkelte Gassen vom Bahnhof den Koffer zum schmucken alten Hotel am Marktplatz gezogen, ganz kleines Residenzstädtchen mit Eingang zum Schloss am Ende des Platzes der Kirche gegenüber; vom Hotelzimmer dann das an solchen Orten immer noch mögliche Vergnügen, den Männern und Frauen zuzuschauen, wie sie im sanften Abendlicht die Verkaufsstände, umrahmt von ein paar Kastanienbäumen, geschäftig aber ohne Hast abräumen, während die Kellnerin auf der Terrasse vor dem Hotel die Tische zum Abendessen deckt – und lässt man den Blick etwas weiter schweifen, so sieht man hinter den Torpavillons des Schlosses den Brunnen im Schlosspark zwischen Blumenrabatten blitzen.
Ein wenig weiter nördlich Wertheim am Main und der Tauber, die ruhig und glänzend nach der Pension vor dem Städtchen an einer wild bewachsenen Wiese entlang fließt; diese aber zu durchqueren keine Alternative zur Fahrstraße: sie erweist sich als schwer durchdringlich, nach einer Viertelstunde in verfilztem sumpfigen Gras muss zum Straßendamm abgebogen werden. Vom Ortskern hinauf zu den romantischen Ruinen der Burganlage: Blick auf die mittelalterliche Stadt an der Mündung der beiden Flüsse. Dann vorzügliches Abendessen…
Durch poetische Hügellandschaft in die kleine hochgelegene Residenz Schillingsfürst; nach Ansbach: Schloss, klassizist. Kirche und städtebaulicher Entwurf! Im friedvollen Schlossgarten erschrocken, als nach Dickicht eines Nebenweges plötzlich allein mit kühlem Abendwind und der Gedenktafel, dass hier Kaspar Hauser seine tödlichen Stichwunden erhalten.
Bad Kissingen mit wirklich schönen (Rosen)gärten um die Kurpavillons, Pensionisten (wie ich) auf den Reihen von Parkstühlen; Pension in alter stattlicher Villa im Beginn eines Waldes am Stadtrand, ein paar alte (inländische) Dauer(?)gäste gewähren mir mit zögernder Freundlichkeit den Zutritt zum Garten. − Halbtagsausflug mit regionalen Autobussen nach Aschach: (Dorf und) Schloss, behäbige Einrichtung aus dem späten 19. Jh., draußen sofort baumumstandene Wiesen und Äcker, ringsherum sanft abfallend, mit kleinem Heustadel und Leiterwagen. Die Schlosskustodin hat Schluss, tritt vor das Tor und erzählt mir vom hier noch etwas archaischen Landleben, das mich an manche Bedingungen in meiner Kindheit erinnert.
Dass die Kleinstaaterei der deutschen Fürsten auch ihr Gutes hatte, lassen die kleinen Residenzstädte besonders in Thüringen erkennen: fast immer gibt es ein Theater (das von Meiningen war berühmt), eine Allee mit schönen, noch gesunden Bäumen mit ansprechenden Häusern, einen hübschen Schlossplatz, früher auch oft bedeutendes literarisches Leben in kleinen Palais…
Knorrige Wurzeln - Südtirol
Selten sind mir auf den vielen Reisen so unliebenswürdige Menschen begegnet wie im Geburtsland meines Vaters Südtirol. Vom Angestellten der Vinschgauer Bahn, der mir den für mich in Frage kommenden ermäßigten Tarif nicht nennen wollte, sondern mich mit den Worten „Ihre Brille haben Sie ja auf!“ auf den betreffenden langen Aushang hinwies, über den Busfahrer auf des Seiser Alm, der auf (andere) Touristen schimpfte, die ihn mit „imma desölbn“ Fragen zu zwei verschiedenen, aber die gleiche Benennung tragenden Haltestellen belästigten, bis zu…
Aber auf einem Bahnsteig in Franzensfeste auf den Zug nach Innsbruck wartend wurde ich aus dem Fenster eines gegenüber stehenden Zuges von einem südländisch aussehenden Jungen gefragt, ob ich einen Bus versäumt hätte. Ich verneinte und wir kamen ins Gespräch: er sei Südtiroler, nicht Italiener, obwohl Italienisch seine Hauptsprache sei, konnte gut Deutsch (auch Hochdeutsch) und...seine Eltern kamen aus Spanien (Murcia, das ich ja kannte)! Er hatte also (mit Englisch) vier Sprachen gelernt, wollte Tischler werden. „Falegname“, sagte ich, er lächelte: ja, so sei das „mit den Sprachen und den Berufen“. Als mein Zug kam, wünschten wir einander herzlich alles Gute.
Heiterkeit und Herzlichkeit - Italien
In den fünfziger und sechziger Jahren konnte man in Italien, wie in England, leicht Autostopp fahren, und hatte dabei oft interessante Gespräche und Erlebnisse.
Zwei LKW-Fahrer, die abends vor Verona beschlossen, ein öffentliches Haus zu besuchen, luden mich ein, mitzukommen, was ich erschrocken ablehnte. Nach ein paar Minuten kamen sie zurück: „alleine“ mache es ihnen auch keinen Spaß!
(War das „starker Tobak“ für den Anfang, so kommt jetzt nur noch Harmloses.) Der Fahrer eines kleinen Dreirad-LKWs, der mich von der Pineta Ravennas zurück in die Stadt mitnahm, entschuldigte sich, dass ich auf der Ladefläche unbequem saß!
Das Reisen mit Kindern ist in Italien besonders angenehm, da die bekannt kinderliebenden Italiener zu reisenden Familien, und noch mehr zu einer Mutter, die mit einem oder mehreren Kindern reist, so zuvorkommend sind, dass die Unbequemlichkeiten, die ihre Nachlässigkeit verursacht, reichlich ausgeglichen werden.
Als meine Frau mit unserer dreijährigen Tochter nach Rom kam, wo ich vorher hatte hinfahren müssen, hatte sie zwar Platzkarten ab Wien, unterbrach aber in Arezzo, und nahm ein paar Stunden später einen Regionalzug. Als die beiden im Korridor des Wagons erschienen, sprangen die acht Soldaten, die ein Abteil besetzt hatten, auf, um ihr Platz zu machen und versuchten dann von der Korridortür aus Konversation. In einem Bahnhof kam ein Eisenbahner bei uns vorbei und legte meiner kleinen Tochter wortlos eine Rose auf das Köfferchen!
Als wir einmal das Kunstmuseum in Novara besuchen wollten, fragten wir die Museumswächter, ob unsere kleinen Kinder in der Vorhalle spielen dürften, während wir die Bilder ansahen. (Wir nahmen sie zwar meist mit in die Galerien, aber diesmal waren sie sehr aktiv.) Die Bitte wurde gewährt, und als wir zurückkamen, sahen wir die Wächter mit unseren Kindern zwischen den Säulen der Halle Versteck spielen!
Nach einem Abendessen mit unserem vierzehnjährigen Sohn in Neapel (Frau und Tochter waren nicht mit) folgten uns zwei verdächtig aussehende junge Männer aus dem Restaurant auf die Straße, sprachen uns an…und waren begeistert, dass mein Sohn noch einem alten Hund, den wir auf dem Hinweg gesehen hatten, für ihn eingepackte Reste des Essens geben wollte; sie suchten mit uns den Hund, der aber schon gegangen war, und begleiteten uns zu einem Taxi, dem sie eindringlich Instruktionen gaben, uns für einen von ihnen ausgehandelten moderaten Preis zum Hotel zu fahren…
Das Capodimonte-Museum war entgegen der Öffnungszeiten zu, und zwar auch am Tag danach trotz gegenteiliger telefonischen Versicherung ein paar Stunden vorher; anderseits ließen uns freundliche Portiers der Oper deren klassizistische Einrichtung sehen und hätten uns sogar gratis in die (schon begonnene) Aufführung gelassen.
Als ich, wieder in Neapel, eines Abends den Kiosk schon geschlossen fand, an dem man Fahrkarten kaufte, und der Busfahrer keine verkaufen konnte, fragte ich ihn, was ich nun tun solle: „Sie fahren eben ohne Karte, ist das nicht besser?“ rief er ungeduldig.
In Tarent hatte ich früher einmal zufällig die abendliche Fahnenzeremonie auf der Seefestung gesehen, und beim Abzug hatte die Musik zu meiner Überraschung den „Prinz-Eugen-Marsch“ gespielt. Das wollte ich bei einem späteren Besuch wieder sehen und fragte die eleganten Carabinieri vor ihrem Hauptquartier gegenüber danach. Leider gab es die volle Zeremonie nur mehr selten, aber „das Bisschen, das es heute abend gibt, sehen Sie von hier oben auf den Stufen besser, kommen Sie zu uns herauf!“
Ich hörte einige Witze über die Carabinieri, daher noch ein Gegenbeispiel: Bei einem Besuch Südtirols stand ich einmal mit meinem Vater an der Theke der Gastwirtschaft von Laas im Vinschgau, wo wir Verwandte haben; ein Cousin meines Vaters war auch wirklich als Elektriker ein „dinamitardo“ gewesen, war während seiner sieben Jahre im Gefängnis von Mailand anfangs, wie auch andere, gefoltert worden, wurde dann aber fast populär, da er, passenderweise, die Stromleitungen reparieren konnte. −An die Theke kamen nun auch zwei Carabinieri. „Vita brevis, ars longa“, sagt man, und aus irgendeinem Grunde nannte mein Vater im Gespräch mit anderen Gästen den Namen Carducci. Die beiden Carabinieri wandten sich lächelnd zu ihm; er sagte: „Ja, ich war in Bolgheri“, und alsbald hörte ich alle drei das Gedicht mit dem „duplice filar“ aufsagen.
Auch sonst ist heitere Lebensart in Italien nicht etwa mit Oberflächlichkeit gekoppelt. Als ich mit einem unserer guten italienischen Freunde einmal auf dem Gianicolo stand und nachdenklich auf das Panorama der Ewigen Stadt hinunterschaute, sagte er leise in die Stille: “Si, metabolismo filosofico“…
Und schließlich befand ich mich vor ein paar Jahren zu Silvester in Cremona bei einem Freund, der mich zu seiner Party eingeladen hatte. Nach dem Anstoßen um Mitternacht wollte ich gehen, da ich außer ihm und seiner Frau niemanden kannte und nicht im sicher bald ausbrechenden Übermut stören wollte. Trotz aller Ermunterungen, zu bleiben, war ich im Begriff, hinauszugehen, als ich einen Gast sagen hörte: „Was, der Österreicher geht nun wirklich?“ Ich drehte um und blieb.
Tschechien - welche Vergangenheit?
Als ich mit der Österreichischen Hochschülerschaft in den sechziger Jahren einen Ausflug nach Prag machte, sprach mich dort ein junger Mann an, der ein Versprechen an seine Mutter erfüllte, bei Deutschen und Österreichern wegen der brutalen Vertreibung der Deutschen 1945 um Entschuldigung zu bitten! Ich wusste damals gar nichts Genaues davon und dankte ihm erstaunt.
Später erfuhr ich allerdings auch, dass die meisten „Sudetendeutschen“ in den letzten Jahrzehnten der Monarchie mit dem „Reich“ (sozusagen dem zweiten Deutschen, wie später auch mit dem Dritten) sympathisierten und Gegner der habsburgisch-österreichischen Politik des Entgegenkommens bei slawischen Wünschen waren; nach Gewährung weiterer Verfassungsrechte konnten sich „demokratisch“ gewählte städtische Instanzen leider gegen den Wunsch des Monarchen und der tschechischen Minderheit (in der Stadt) durchsetzen; sie zogen das Recht des Stärkeren dem versöhnlichen Ausgleich vor…Natürlich ist damit keine Grausamkeit entschuldigt. − Wie mir ein tschechischer Bekannter erklärte, wurden manche früher deutsche Dörfer nicht wieder besiedelt und die Gebiete liegen wirtschaftlich danieder.
Freundliche Feinde? - (Ex-)Jugoslawien
Ende der Osterferien 1991: der Zug Athen – Salzburg rollte durch das breite grüne Tal des Vardar, als ich beim Schlafwagenschaffner frühstückte, so wie einheimische Reisende, einen türkischen Kaffee; darauf folgten weitere Schälchen, jeder spendierte eine Runde. Die anderen, Gastarbeiter, die Deutsch konnten, waren erfreut, dass ich den Namen des Flusses wusste, durch dessen Tal wir fuhren, und auf meine Fragen zu der bereits gespannten Lage in Jugoslawien meinten sie, Konflikte werde es sicher zwischen den nach Unabhängigkeit strebenden Teilrepubliken keine geben, dazu hätten sie alle viel zu lange gut zusammen gelebt…
Nach Serbien ging es 2002, wobei uns serbische Freunde aus Wien trafen und herumfuhren. Syrmiens Landschaft ist fruchtbar und die Hügel hübsch, Serbien überraschend grün, Belgrad elegant, auch die – Kleider der – Frauen; die Gastfreundschaft der Familien unserer Freunde war phänomenal: in ihrer Heimatstadt Kraljevo saßen wir jeden Abend bei der ganzen Familie auf der Terrasse ihres Hauses und wurden bewirtet, wobei es immer interessante Gespräche gab. In Kragujevac nahmen uns sogar die Eltern des geschiedenen Mannes unserer Freundin auf, mit Torte und Übernachtung im besten Bett. Die beiden jungen Aufseher des Volkskundemuseums in Belgrad schenkten uns als Trost dafür, dass das Museum geschlossen war, einen Fotokatalog.
In den Gesprächen kamen vergleichsweise oft nationalistische Ressentiments zur Sprache, nicht gegen Österreicher oder Deutsche – wobei wir doch auch den Gedenkpark für die Opfer eines Massakers in der Nähe von Kraljevo besichtigt hatten, das bei uns wenig bekannt ist –, sondern gegen die anderen Völker Jugoslawiens, welche Serbien um die Früchte seiner Leiden im 1. Weltkrieg betrogen hätten.
Eine zweite Reise nach Serbien und Bosnien 2010 bestätigte den vorherrschenden Eindruck der Korrektheit, Bescheidenheit, Höflichkeit (außer bei den Autofahrern), Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit …Gespräche mit einer moslemischen Mitarbeiterin des Österreich-Hauses in Sarajevo und einer österreichischen Friedensarbeiterin, mit einem Bosniaken, d.h. bosnischem Moslem, verheiratet, zeigten verschiedene Standpunkte und bei uns verheimlichte Tatsachen: die Moslems, die in der osmanischen Zeit doch sehr bevorzugt wurden, waren empört über das serbische Attentat auf Franz Ferdinand, hatten sich im 2. Weltkrieg teilweise mit den Italienern und Ustaschen liiert, in den Kämpfen der neunziger Jahre ebenfalls mit den katholischen Kroaten; beide erhielten angeblich Waffen vom Westen, die gegen Bestechung durch Kroatien geschleust wurden, und es gab viele durchaus freiwillige Meldungen zu den Milizen (was die moslemische Gesprächspartnerin gut fand). Die Serben (Bosniens, aber mit Unterstützung aus Serbien, z.T. noch der jugoslawischen Volksarmee) hatten den Kampf eröffnet, als die EU ein bosnisches Parlament anerkannte, aus dem sich die Serben zurückgezogen hatten, weil sie dort immer überstimmt werden würden. Die furchtbaren Gräuel von Srebrenica folgten auf kleinere Massaker seitens der Kroaten und Moslems in den serbischen Dörfern der Umgebung mit 3000 Toten. Die USA bombardierten übrigens nicht nur ausgewählte Ziele in Belgrad, sondern auch in anderen serbischen Städten, und davon waren noch überall im Land Ruinen zu sehen. Die Eintracht der Nationalitäten unter dem kommunistischen Regime habe es eher nur in den Städten gegeben; auch bei uns sind ja die Dörfer viel homogener und gegen „nahe“ Fremde ablehnender (gewesen); der Nationalismus sei nicht (wie ich befürchtet hatte) durch Lehrer, sondern die Medien verbreitet worden. Nun sei die Animosität allgemeiner, wenn auch nicht mehr auf privater Ebene.
In einem Ort der Serbischen Republik befand sich unter den Männern, die in einer verrauchten Kneipe Slibowitz tranken, ein Kroate, der von seiner Gastarbeiterzeit her Deutsch konnte: er hatte sich vom Ersparten bei Trogir (in Kroatien) ein Haus gebaut, pendelte also ruhig zwischen seinem Arbeitsplatz und seinem Ferienhaus. Unter Inländern sei es in Bosnien übrigens verpönt, nach der Nationalität zu fragen, und die Autokennzeichen enthielten keine Ortshinweise. Hinsichtlich der Sprache hätten Kroaten und Moslems zwar einige spezifische Ausdrücke von früher wiederbelebt, aber bei allen, auch bei den Serben in Bosnien, sei nach wie vor die „jekavische“ (in Kroatien übliche) Variante der gemeinsamen Sprache vorherrschend, nicht die in Serbien übliche „ekavische“, also z. B „ljevo“ (nicht „levo“) für „links“.
Charmanter Balkan - Rumänien
In Siebenbürgen gab es mindestens 2002 immer noch viele gebildete Ungarn und Rumänen, die gut Deutsch sprachen und Österreich schätzten. Auch anderswo war der Eindruck viel besser als man von Erfahrungen mit Rumänen in Österreich schließen würde. Abgesehen von der bekannten Liebenswürdigkeit und (in Bukarest) Eleganz war auch das Fehlen von Nationalismus wohltuend: der Fremdenführer im Schloss von Sinaia sagte zu einem Ministerporträt von ca. 1905 an der Wand, da sähen wir den wahrscheinlich letzten anständigen Politiker Rumäniens.
Oft hatten Kellner kein Wechselgeld, aber ebenso oft, wie sie nicht den Rest herausgaben, ließen sie den Kunden nur die nächstniedrige Summe zahlen, die er passend hatte.
Und als in einem Bahnhof der Zug zu früh (!) abfuhr und ich gerade vom langwierigen Fahrkartenkauf auf den Bahnsteig kam, riefen alle „Da ist er ja!“ und schoben mich fröhlich in den schon anrollenden Zug, in den sie meine Frau und das Gepäck bereits verfrachtet hatten.
Polen − doch noch nicht verloren.
Auf einer Reise durch Polen wurde mir am Bahnhof von Posen die Aktentasche gestohlen. Vorher hatte mir während einer Zugfahrt ein pensionierter Französisch-Gymnasiallehrer erklärt (auf Französisch; wir standen beide am Gang), Polen hätte besser nicht bei der Entsetzung Wiens helfen sollen, sondern wie Frankreich die Türken begünstigen: diese hätten dann Deutschland erobert und Polen hätte nichts erlitten!
Die Taxifahrer vor dem Bahnhof in Warschau schimpften meine Frau und mich „Nazis“, als wir es ablehnten, für ihre exorbitanten Preise mit ihnen zu fahren…
Aber im Zug nach Oppeln bot uns eine junge Dame ihre Hilfe an, da sie unsere Unterhaltung darüber verstanden hatte, wie wir wohl von Oppeln in das Heimatdorf der Familie meiner Frau (vor dem Krieg) kommen könnten: sie eruierte die Busverbindungen, telefonierte mit dem Dorfpfarrer – und als wir in dem Dorf nach erfolgreichem Besuch einem gerade davonfahrenden Bus nachstarrten, hielt ein vorbeifahrender Mann an und brachte uns in seinem Auto zur nächsten Haltestelle, bevor der Bus dort war; und schließlich, als wir in Stettin einen Mann (auf Englisch) nach der Konzerthalle fragten, in welcher der Vater meiner Frau (im Krieg in Russland vermisst) dirigiert hatte, brachte er uns dorthin, läutete den Portier des schon geschlossenen Gebäudes heraus, zog eine Flasche Bier aus seiner Hosentasche (!), gab sie dem Portier, ging mit uns durch die heiligen Hallen und lud uns noch zu einer Tasse Tee in seiner Wohnung ein: er war ein Offizier im Urlaub, seine Frau war noch an der See.
Stettin, meinte er, sei immer noch wegen guter deutscher Gebäude ein angenehmer Wohnort, und wegen seiner offenen, toleranten Einwohner, die ja hier zunächst fast alle Neuankömmlinge gewesen seien, aus ganz Polen, und vor allem aus den an die Sowjetunion abgetretenen Ostgebieten (für die man Schlesien und das halbe Pommern erhalten habe…).
Schon das kommunistische Regime hat ja die wegen der deutschen Invasion zerstörten deutschen Städte hervorragend wieder aufgebaut und die Schlösser, teils in sächsischem Barock, teils klassizistisch (aus der patriotischen Epoche des polnischen Adels, mit den dazugehörigen Gärten), renoviert.
Immer noch zum Fürchten? - Russland
In meinen Hotels residierten im Jahre 2000 immer noch auf jedem Stockwerk in einem offenen Zimmer gegenüber dem Treppenaufgang die berühmten Schlüsselbewahrerinnen, jetzt aber keine alten Drachen mehr, sondern junge Frauen: eine seufzte immer anklagend, wenn sie mir abends den Schlüssel gegen Abgabe des morgens für ihn eingetauschten Kontrollzettelchens aushändigen musste; eine andere dagegen versuchte dabei mit mir auf Englisch zu plaudern und lud mich dazu sogar auf eine Tasse Tee ein.
An der Rezeption des Hotels in Moskau musste ein Koreaner seinen Flug umbuchen; er sollte nach dem Telefonat die Umbuchung sofort per Fax bestätigen und wollte dies (gegen Bezahlung) vom Faxapparat des Hotels tun. Die Rezeptionistin verweigerte ihm das aber barsch: dazu habe er „kein Recht“; auch sein Bitten half nichts. Ich wandte mich ab, um meine Empörung zu verbergen. Dann aber kam eine Vorgesetzte, die das Fax freigab.
Bei einem Abend in der winzigen Wohnung von Bekannten stellte sich heraus, dass der verstorbene Vater Dichter war. Alle sprachen gut Deutsch. Eine Tochter der Familie stand vor ihrer Aufnahmeprüfung zur Universität und wollte sich diese nicht von den Eltern beim Professor erkaufen lassen; die Familie schwebte daher in großer Angst, sie könne „durchfallen“; sie aber meinte, die Korruption müsse endlich aufhören, und der Vorwurf der Bestechung könne von späteren Gegnerinnen immer hervorgeholt werden.
Im altmodisch-prunkvollen Schlafwagenzug von Moskau nach St. Petersburg nahm mir eine dicke Schaffnerin in Galauniform gleich einmal den Pass ab und schärfte mir ein, in der ersten halben Stunde nach Verlassen des Bahnhofs in Moskau und in der letzten halben Stunde vor der Ankunft in St. Petersburg nicht auf die Toilette zu gehen, da sonst die Geleise im Stadtgebiet verschmutzt würden.
Im Abteil befanden sich ein junge Dolmetscherin und zwei Ingenieure: erstere erwies sich als Patriotin, und ich gewann ihre Anerkennung, als ich die westliche Geringschätzung für das neue Russland missbilligte; die Ingenieure aber, die an Atomwerken arbeiteten und auch in jenem von Temelin gewesen waren, quittierten meine Erwähnung der österreichischen Gegnerschaft zu solchen Projekten mit unverblümter Verachtung: ja ja, kleine Länder machten bei so etwas immer „Theater“...
Der Verkehr in Moskau war viel rücksichtsloser als ich dachte, die Frauen viel schöner − und die ukrainische Hauptstadt Kiew (dem Anschein nach) wohlhabender; die Landschaft zwischen den beiden Städten langweiliger. (Aber das ist jetzt vielleicht doch zu frivol gesagt.)
Gestörtes Ideal - Griechenland
Auf meiner ersten Griechenlandreise 1971 war ich doch ergriffen, als ich zur Akropolis hinaufstieg, zum Zentrum der Kultur, die mir jahrelang im Gymnasium nahe gebracht worden war. Außerdem versuchte ich naiverweise, im Lesesaal des klassizistischen Gebäudes der Nationalbibliothek in Athen und auch im Autobus nach Olympia ein Gespräch über die damalige Diktatur zu beginnen – vergeblich, natürlich.
Auf zwei weiteren Reisen, ein und zwei Jahrzehnte später, begegnete ich bei (halb)gebildeten Griechen einem seltsamen Nationalismus: lächerlich z. B das Bestehen darauf, dass der „Türkische“ „griechischer“ Kaffee genannt werden muss; oder das eigene Land wurde herabgesetzt: dies in ebenso kurioser wie peinlicher Weise auf dem Schiff nach Santorin, das natürlich Verspätung hatte, und zwar drei Stunden; ich wollte das Hotel anrufen, da wir nun erst nach Mitternacht ankommen sollten; der Telefonautomat ging nicht, aber man werde mir auf der Brücke helfen, sagte der „Purser“. Auf der Brücke fragte mich jedoch der Offizier ungehalten, wie ich auf diese Idee käme, und auf meine Erwähnung des „Pursers“ antwortete er heftig, ich solle nie mit solchen Ignoranten reden, die Mehrheit der Leute seien Idioten! Er meinte offenbar seine Landsleute (und half mir mit dem Telefonat).
Armut und Würde - Spanien und Marokko
Im Sommer 1964 fuhr ich (allein) nach Spanien und Marokko, zunächst mit dem Europa-Bus von München über Lyon nach Barcelona, mit langer Grenzkontrolle an der spanischen Grenze;dort sagte mir eine spanische Mitreisende von den Guardias civiles (Gendarmen, damals noch mit dem schwarzen Zweispitz), diese seien „die drei f“: „feo, fuerte, fiel“ („hässlich, stark, treu“): meine damalige Hochschätzung Spaniens als katholischer Diktatur (ich war „dümmer als die Polizei es erlaubt“) mischte sich mit erstem Unbehagen. – Von Barcelona ging es im überfüllten Nachtzug (wie andere schlief ich auf Zeitungspapier am Gang) nach Huesca, zum Fest des hl. Lorenz, durch Stierkampf pervertiert; weiter zu den Kirchen voll majestätischer Frömmigkeit in Saragossa, großartig am Ebro gelegen; dort die erste Horchata getrunken, Mandelmilch, bevor ich den Zug nach Burgos nahm; die Kulisse der großen Treppe zum Dom in Burgos erinnerte an die Verfilmung des Schelmenromans „Lazarillo de Tormes“.
Während der langsamen Zugfahrt nach Burgos, durch bemerkenswert wilde Gebirgslandschaft, saß ich mit zwei Spaniern auf dem Trittbrett des vollen Wagons: während der eine mir die Bedeutung Franco-Spaniens für die Moral Europas erklärte, schwieg der andere, ein dicklicher Herr mit Brille, um in einer Vortragspause zu sagen: „Probieren Sie einmal, Ihre Brille mit Zigarettenpapier vom Staub zu reinigen – hier, nehmen Sie von meinen Blättchen!“ Es ging hervorragend.
Ich hatte in Spanien, wo Autostopp wegen Pkw-Seltenheit die Reise enorm verlängert (und damit andere Kosten gesteigert) hätte, einen 3000-km-Bahngutschein für die 3. Klasse, die natürlich sehr einfach und ganz aus Holz war, oft sehr voll, auch mit Marktkörben, Hühnern und auf den Boden pinkelnden Kindern, von Staub durchweht; die Züge rumpelten mit durchschnittlich 35 Stundenkilometern durch das heiße, ausgedörrte Land, und zwei Guardias civiles mit Karabinern patrouillierten in jedem Zug auf und ab. Meist gab es nur einen Zug täglich, und oft bekam man am Nachmittag keine Fahrkarten mehr für den folgenden oder sogar übernächsten Tag, was mit der Zeit das Gefühl hervorrief, aus dieser lebensfeindlichen Masse Land kaum mehr herauskommen zu können – ein Gefühl, das sich später in Peru und Bolivien wieder, und noch stärker, einstellen sollte. An grenznahen Bahnhöfen wie dem von Barcelona musste man erst anderthalb Stunden zur Ausweiskontrolle anstehen, dann nochmals so lang zum Kauf der Fahrkarten bzw. (bei mir) Umtausch des Gutscheinabschnitts. Auf den Bahnsteigen wurden Nahrungsmittel und Getränke verkauft, Wasser aus Tonkrügen. (Ich lernte Wein aus der gastfreundlich angebotenen Lederflasche aus kleiner Entfernung in den Mund zu spritzen.) Während der Aufenthalte konnte man sich an einem Wasserhahn auf dem Bahnsteig abspülen; im Toilettenraum allerdings galt es manchmal über Haufen zu steigen, bis man ein noch relativ leeres Plätzchen gefunden hatte: die Klos selbst waren, wie die im Zug, voller Exkremente. (Inzwischen sind Bahn und Bus tadellos.)
Wenn es stundenlang durch die öde, in der Hitze flimmernde Meseta ging, wurde Don Quijote verständlich. (Ein umfassenderes Verständnis des sehr christlichen und „spanischen“ Gehaltes dieses Werkes von Cervantes haben mir allerdings erst die später gelesenen Interpretationen von Azorín, Madariaga, und des antiklerikalen Unamuno vermittelt, und vor allem ein russischer Film.)
Katalonien war damals schon moderner als das übrige Spanien (wenn man politisch korrekterweise noch so sagen darf), und dadurch mitteleuropäisch komfortabel, während es heute die Nachteile der Modernität aufweist und auf mich im „jugendlichen“ Rummel seiner hochmütigen Katalanität eher unsympathisch wirkt, Barcelona ist auch kriminell geworden, und seine Darbietung des Jugendstils kann jetzt ähnlich wirken wie die von Klimt in Wien.
Die Unterkünfte waren extrem billig und unangenehm. In Madrid gab es in dem Wald unterhalb des Königsschlosses (aber damals regierte Juan Carlos noch nicht) eine der seltenen Jugendherbergen Spaniens, die ich aber nach einem luxuriösen Abendessen mit einer lustigen Studienkollegin aus Österreich und ihrem spanischen Freund, Sohn einer reichen Familie, nicht wieder fand. In dem monddurchleuchteten, schütteren Wald traf ich keine Menschenseele und legte mich schließlich auf eine Steinbank, um den Rest der warmen Nacht zu schlafen. Ich döste erst, als ich von einer Guardia civil wachgerufen wurde, die meinen Pass kontrollierte und mich zu ihrem Minibus begleitete. Als ich, wie geheißen, hinten einstieg, sah ich überrascht vier weitere Guardias mit Karabinern in den Händen, die wortlos für mich zusammenrückten. Die Guardia civil fand die Jugendherberge natürlich sofort, und alsbald schlief ich ordnungsgemäß in meinem Bettchen, allerdings mit Flöhen, weswegen ich dann doch in die Stadt zog, in ein Privatzimmer ohne Fenster, dessen grüne Ölfarbe in der Hitze zwar besonders scharf roch, aber offenbar alles Ungeziefer vertrieb. (Damals öffnete einem Spätankömmling übrigens noch der „sereno“, eine Art Nachtwächter, die Haustür.)
Mit gewisser Erregung setzte ich dann von Südspanien nach Afrika über, auf einem Schiff von Algeciras nach Ceuta, vorüber am Felsen von Gibraltar in großartiger Szenerie. Vor der Abfahrt im Minibus nach Tetuan (in der früher spanischen Zone Marokkos) fand ich, nun sei die Hygiene so in Gefahr, dass ich mir etwas von dem Desinfektionspulver, welches mir meine Mutter mitgegeben hatte, auf die Haut sprühte. Gott sei Dank ging das gut aus, wie fast immer auf meinen doch recht großen Reisen. Auch dass ich in Marokko ohne jegliche Schutzimpfung von Straßenständen aß – sehr schmackhaft −, Wasser von Brunnen trank –– und rohe Feigen ohne das Brot verzehrte, welches mir der Straßenhändler unbedingt „andrehen“ wollte (wie ich meinte), hat mir nicht geschadet.
Abends kam ich in Tetuan, wo viele noch Spanisch konnten, kam ich an Männern vorbei, die auf dem Straßenpflaster saßen und von Zeitungspapier leckere Bissen verspeisten; sie luden mich ein, mit zu essen, und am Ende ging eine Zigarette rundum. Sie erklärten mir, das sei bei ihnen so harmlos wie bei uns das Weintrinken; einer von ihnen schien wirklich beschwipst, und als er mich einlud, mit ihm nach Hause zu kommen, seine Frau werde uns noch ein gutes Essen machen, lehnte ich dankend ab – und als er gegangen war, fragte ich den ältesten der Anwesenden, ob das richtig gewesen sei; er antwortete würdevoll: „Du hast (es) gut gesagt, Gast“. – Hübsche Gassen, ganz weiß die Häuser der Europäerstadt (von der Medina durch einen Streifen Ödland getrennt) mit Veranden und Gitterwerk in einem tropikalen Art-déco-Stil.
Fes ist bekannt, eindrucksvoll ein Geschichtenerzähler auf einem abendlichen Platz, umgeben von einer gespannt zuhörenden Menge, wir standen alle auf dem warmen Erdboden...und am nächsten Vormittag in einer hellen, kahlen Bar ein Glas heißen Wassers mit stark- und wohlschmeckenden Minzeblättern darin, zu betäubender arabischer Musik.
Als in Meknes der Bus am Abfahrtstag ausfiel, versuchte ich, ausnahmsweise, per Anhalter fortzukommen. Nach 5 Stunden vergeblichen Wartens gab ich auf, obwohl mir in der Zwischenzeit eine schwarze Bediente durch das Tor einer der Luxusvillen am Stadtrand, wo ich stand, ein Glas Wasser gegeben hatte. Ein Bub brachte mich zu einer Familie, die mir für ganz wenig Geld ein anständiges Bett gab und mich sogar an ihrem leichten Abendessen teilnehmen ließ. Leider konnten sie nur arabisch, und ich nicht, aber wir machten viele lächelnde Gesten. Trotz dieser Beispiele gab es insgesamt wenig Kontakt, das Privatleben der Leute blieb mir schleierhaft, auch die Kunst schien mir nicht sehr reichhaltig, jedenfalls wenig sichtbar, da in Marokko viele Moscheen auch für männliche „Ungläubige“ verboten sind.
Der nächste Tag mit der Busfahrt nach Tanger entlang der marokkanischen Atlantikküste war kühler und bewölkt, lange, hellgraue Wellen rollten an eine gute Asphaltstraße heran, dann kam fahlgelber Strand und…ein Sandsturm! Eine Weile sah man nur gelbgraue Nebel, der Sand flog sehr bald durch die Fensterritzen, und ich bemerkte, dass sich die Männer gleich ihre Turbane und die Frauen ihre Gesichtsschleier um den Kopf gewickelt hatten. Ich besaß ja nichts dergleichen (das Handtuch war im Rucksack auf dem Dach), schloss also fest Augen und Mund, hielt mir die Zeigefinger in die Ohren...aber bald war es vorbei, der Bus fuhr wieder schneller, und das Gepäck war schön unter der festgezurrten Plache geblieben.
In Tanger, der großen Hafenstadt mit vorwiegend französischer Architektur, wollte mir auf dem weiten, plötzlich etwas einsamen Strand ein Schwarzer Begegnungen mit Jungen vermitteln, und junge Marokkaner fragten mich nach Arbeit in Europa. Im alten Stadtzentrum aber bewegte sich mitten auf einer belebten Gasse ein Mann mit schnellen Drehungen und lautem Reden. Auf meine Frage antwortete ein anderer, er versuche, Gott besonders zu loben.
Die noch in Marokko wohnenden Spanier und Franzosen gaben mir die schäbigsten und dafür teuersten Zimmer auf der ganzen Reise und waren bemerkenswert mürrisch. So nahm ich in Tanger, wo es eine Jugendherberge gab, ein Bett in derselben. Bei Beginn der Nachtruhe dachte ich noch mit gemischten Gefühlen an die hübsche Frau, die mich in einer (keineswegs auffälligen) Nebenstraße ordentlich erschreckt hatte, als sie aus einer Tür trat und sich mir mit dem Ausruf (auf Spanisch) „Komm, Mann!“ an den Hals warf...da ging das Licht im Schlafsaal wieder an – und vor mir sah ich auf dem Kopfkissen zwei Wanzen stehen. Sie ließen sich nicht wegpusten, und so wickelte ich meinen Kopf in mein Handtuch. Am nächsten Morgen – kein Biss!
Welche Erleichterung, nach der Überfahrt „nach Europa“ im grau verhangenen britischen Gibraltar, nunmehr mit Reiserichtung heimwärts, einen Bobby am Quai zu sehen, Tee und „Apple pie“ zu bekommen! Die Einheimischen hatten spanische, italienische und englische Namen, waren wohl mehrheitlich katholisch und angenehm in ihrem Verhalten; viele waren kleine Kaufleute, politisch probritisch: damals kein Wunder! – Bei einem späteren Besuch allerdings war die Stadt ganz kommerzialisiert, auf das inzwischen wohlhabendere Spanien ausgerichtet, und wie zur missratenen Kompensation machten in den Bars britische Touristen oder „Expats“ mit frechen englischen Kellnerinnen Witze über die Spanier: ein Verfall, der dem Englands insgesamt entsprach.
Auch dann noch, wie auf der ersten Reise, fiel mir dagegen die gemessene große Höflichkeit der meisten Spanier auf, mindestens 1964 übrigens auch die Ehrlichkeit (wenn man im Zug einmal etwas liegen ließ). Bei meiner Rückkehr nach Europa jedoch kamen mir ein paar Tage lang die Frauen in ihren kurzen Röcken recht provokant, fast vulgär vor. Marokkos Frauen waren dabei nicht etwa ohne Reiz: ich erinnere mich noch an die zierlichen Füße auf den hohen Absätzen feiner Sandalen unter dem Saum der langen Kleider, an den schöngeformten Arm (mit schmückenden Reifen) einer Dame, die sich in einem Bus plötzlich an einem oberen Haltegriff festhalten musste, an die großen, klaren (lächelnden?) Augen (über dem Schleier) einer Mutter, die sich für einen offenbar vorwitzigen Zuruf ihres kleinen Buben auf der Straße bei mir entschuldigen wollte.
Nachdem mich der Besuch eines Stierkampfes erwartungsgemäß empört, und noch konkreter angewidert hatte, als ich dachte, war das Schlüsselerlebnis für den Absturz meines Spanienbildes der Aufstieg auf den Turm des Domes von Murcia, bei dem es schon recht eigentümlich roch... Schweiß von Touristen, dachte ich – bis ich atemlos auf die oberste Plattform hinaustretend, eine riesige Urinpfütze erblickte; und als ich in Eile wieder zum unteren Ausgang des Turmes gelangte, fand ich das Ausgangsgitter verschlossen! Erst nach lautem Rufen wurde mir schließlich von einer mürrischen Alten aufgeschlossen. – Als ich dann noch von dem Brauch in einer Kleinstadt hörte, zur Feier eines christlichen Märtyrers einem Stier die Hörner mit Werg zu umwickeln, dieses anzuzünden und das Tier dann aus der Stadt zu jagen und es zu steinigen, da wurde der arme Tilman so traurig, dass seine Tränen in den „café granizado“ fielen.
Mit Freude in Tarragona eine österreichische Zeitung gesehen! Ähnlich hatte ich mich später während meines Schuljahres in Manchester als „Assistant for German“ mit der für jene Monate abonnierten Wochenendausgabe einer Zeitung aus Wien getröstet; ich las sie in dem einzigen gemütlichen Restaurant dort – oder in der Cafeteria des Bahnhofs, und erinnerte mich an die Gastarbeiter am Südbahnhof in Wien.
In Cádiz erlebten wir 1989 eine nächtliche (weniger heiß) Prozession mit dieser berührenden Festlichkeit, entspannt und doch hoheitsvoll im rhythmischen Einherschreiten des weiß-goldenen Zuges bei gelegentlich aufklingender Musik; die theatralisch aufgebauten kultischen Figuren ertragen die steifen Prachtgewänder, die ihnen die Menschen in ihrer Anstrengung zum Göttlichen umhängen. Das gesellschaftliche Auftreten des Publikums ist hier bescheiden, bei den urban-eleganten Leuten wie bei den bäuerlich-gebräunten (in Spanien scheinen die groben Gesichtszüge bei einfachen Frauen und die strengen bei den städtischen häufiger als etwa in Italien); ihr stellenweise hörbares Beten und gedämpftes Plaudern ergibt ein ständig erwartungsvolles Summen; einmal, in der Menge entfernt, die kurze Tongirlande eines Frauenlachens… Plötzlich schwankt das auf Schultern getragene Heiligtum wie in einem raschen Luftzug seines weißblitzenden Damasts vorbei, die Barmherzigkeit in der Glorie. Die Gemeinschaft bereitet ihr hier einen Triumph, nach dem sie sich im Alltag zu selten richtet.
Eine ganze Anzahl der spanischen Kirchen (und einige in Mexiko, Ekuador und Peru) haben wohl von der Frömmigkeit des Landes im Inneren eine spezifische Atmosphäre, wie man sie ähnlich nur noch in einigen Kirchen Venedigs und in manchen großen alten Moscheen vorfindet, sowie in Tempeln Thailands: große hohe Räume wirken durch Dunkelheit anheimelnd, da die Luft warm ist und immer irgendwo goldene Altarwände und Lampen leuchten; schwere samtene Vorhänge dämpfen Licht und Stimmen, auch Teppiche; vieles ist leicht verstaubt (aber sauber), an Holz und Stein glänzen abgegriffene Stellen; die Leute schlendern, aber gemessen, herum, Gruppen von Betenden knien vor Kapellen, deren Pracht selten verspielt barock ist, meist ernste Spätrenaissance. Alles geht scheinbar ungeregelt vor sich, doch reibungslos und würdevoll. Gelegentlich kommt man zu großartigen Prozessionen oder Zeremonien: wie der sehr gute spanisch-amerikanische Film „The Way“ zeigte, lassen in Santiago de Compostela Mönche oder Laienbrüder zwei große Weihrauchkessel an langen Ketten an einander vorbei schwingen, duftende Rauchfahnen ziehen in das hohe bemalte Gewölbe
Anmut am Rande - Portugal
Ein Sprachkurs brachte mich 1973 nach Portugal, ein Jahr vor der „Nelkenrevolution“. Für die damalige Lage war eine Begegnung bezeichnend, die ich mit einem portugiesischen Soldaten in der Imbisshalle des Bahnhofs Santa Apolônia hatte, nahe meiner Pension. Dieser Wehrpflichtige war in seinem zweiten Dienstjahr in Angola verwundet und ins Militärspital nach Lissabon gebracht worden; nun wartete er auf seinen Rücktransport nach Angola, aber weder er noch seine Eltern in Nordportugal hatten das Geld für eine Wiedersehensreise. – In der (damals noch nicht touristischen) Straßenbahn wollte mir einmal ein Anhänger des Regimes dessen Vorteile erklären; in der düsteren kleinen „Bar“ nahe meinem Zimmer in der Alfama, in der ich häufig aß, immer Oliven oder Salzmandeln mit einem kleinen Bier, wollte ich von den rauen, aber gemessen freundlichen Männern etwas über Gewerkschaften usw. hören, bekam aber begreiflicherweise keine richtige Antwort.
Spätere Reisen nach Portugal waren luxuriöser. Lissabon ist ja bekannt schön, die Provinzstädte waren mir unbekannt klein, außer dem dunklen Porto mit seinen atemberaubenden Brücken; die Landschaft ist (im Norden) oft anmutig, ebenso die Architektur: besonders sind einige Villen mit Gärten zu empfehlen. Die Sprache fand ich in der Schrift schöner als in der (jetzigen) Aussprache, die Fados von Coimbra schöner als die berühmteren von Lissabon. − Das sanfte Benehmen der Leute fiel mir auf, sehr anders als Spanien, vielleicht nur in der Sprechweise.
1973 machte Portugal einen weniger armen Eindruck als Spanien, inzwischen ist es wohl umgekehrt. Allerdings habe ich in Portugal auch vor kurzem noch wenige Obdachlose gesehen, die in Madrid überall in den Nebengassen der Prachtstraßen des 19. Jahrhunderts kauern – nach Jahren einer sozialdemokratischen Regierung, die ihr fehlendes soziales Engagement mit Antiklerikalismus kompensierte.
Eigenartig, wie verschieden die Farben der Häuserwände in manchen benachbarten Ländern sind, dabei im jeweiligen Land relativ einheitlich: am auffallendsten zwischen Frankreich (blaugrau) und Spanien (ocker), dann zu Portugal (bunt gekachelt oder weiß mit schwarzem Dekor, schon in Galicien); bunter in Italien (dunkelgelb, weiß, rot), aber in seiner, man möchte sagen, Häuser-„Formatierung“ auch unverwechselbar.
Frischer Sommer - Skandinavien
Für die Reise nach Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland im Sommer 1984 hatte ich für uns vier (meine Frau, die beiden Kinder und mich) insgesamt 16 Schiffsfahrten gebucht, davon eine in einer schönen, großen Vierbettkabine – die man mir zum Preis für eine Person überließ, als die Familie doch nicht mitfuhr. Solche Großzügigkeit konnte ich in Schweden öfters feststellen, auch in Norwegen, wo bei einer Hin- und Rückfahrt mit dem kleinen Liniendampfer in der herrlichen Bucht von Oslo die Schiffer dem interessiert Filmenden den Fahrpreis erließen; als ich sie darauf zu einem Bier an Bord einladen wollte, luden s i e mich ein, denn, sagten sie, das Bier würde mich mehr kosten als die Fahrkarte!
Weniger großzügig schien man im nicht so reichen Finnland, auch in dem schon kontinental-nervösen Dänemark: dort gibt es außerdem eine für Fremde manchmal unangenehme Freude am Spott – „drille“ genannt; auch sind viele Dänen zu sehr davon überzeugt, alles besser als alle anderen Nationen eingerichtet zu haben, wie mir ein dänischer Lektor versicherte, mit dem ich während unserer beider Rückfahrt nach Deutschland sprach; das Wesen des „jentelag“, einer Art Verpflichtung zu allgemeiner Bescheidenheit allerdings, bzw. was daran schlecht sein soll, habe ich nicht verstanden. Mir kamen Land und Leute sympathisch vor, ordentlich u n d lebhaft, gemütlich u n d „fortschrittlich“.
In Dänemark ist das Essen und Bier ja erschwinglich und gut; in Schweden und Norwegen dagegen war es so teuer, dass ich in den ebenfalls sehr teuren Hotels so viel als möglich von dem reichlichen Frühstück aß (wie in England, nur dass es dort nicht ganz so teuer und besser war, und es außerdem Pubs mit gutem Bier gibt, und, wenn man Glück hatte, guten „snacks“); hatte ich mich in Norwegen durch die Fischkreme auf süßem Brot hindurch gequält, so winkten mir Marmeladebrote mit Milchkaffee. Im weiteren Tagesverlauf war Essen nicht nur noch teurer und schlechter, sondern oft auch kaum zu finden: in Narvik machte ich den Fehler, auf dem Weg zum Hotel mit Gepäck nicht an dem Würstelstand zu pausieren, an dem ich nachmittags gegen fünf vorbeikam; als ich das eine Stunde später tun wollte, war er zu, und die nächste Atzung sollte erst drei Stunden später im Scandinavian Airlines-Hotel, 10 Dollar schon der Eintritt, möglich sein. Da konnte ich nur auf dem Zimmer das letzte Knäckebrot knabbern und die lange, fahle Sommernacht – für mich war die Helligkeit eigentlich nur irritierend, ich konnte ja auch mit niemandem feiern – Pfeife rauchend mit deprimierend realistischen norwegischen Romanen verbringen. (A. Mykle: „Liebe ist eine einsame Sache“, der norwegische Titel allerdings heiterer: „Lasso rundt fru Luna“; gut auch E. Hoem: „Fährfahrten der Liebe“, auch dieses insgesamt melancholisch, aber mit einer überzeugenden Szene gegen Selbstmord).
(Auf späteren Reisen habe ich aber gut gegessen; in Dänemark und, wie ich 2020 in H.v. Keyserlings "Analyse spectrale de l`Europe" las, auch in Schweden wird man als Gast geradezu genötigt, gewaltige Abendessen zu vertilgen.)
Während dieser langen Sommerreise herrschte fast dauernd Sonnenschein, und da sahen die skandinavischen Landschaften in ihrem doch immer frischen Grün beim blauen Meer oder See wirklich schön aus. Dieser erfreuliche Eindruck wurde noch verstärkt durch die damals modischen ganz weißen Sommerkleider der Frauen, die in Schweden bekanntlich eine Augenweide sind. Bei ihnen gefiel mir das Schwedische besonders gut; es hat einen Reichtum deutlicher Vokale, der es sehr vom Dänischen und Norwegischen unterscheidet.
Allerdings trinken auch die Frauen gewaltig, nicht nur die Männer, wohl wegen der Beschränkungen im Alkoholverkauf: auf dem Schiff von Finnland nach Schweden bat mich eine sehr hübsche Schwedin, ihr beim Aufschließen ihrer Kabine zu helfen; sie wollte sich schlafen legen, nachdem sie auf der Nachtfahrt von Stockholm schon kräftig dem auf See billigeren Alkohol zugesprochen hatte. Als ich sie Stunden später mit ihren Freundinnen an Deck traf, ertrank unsere Unterhaltung buchstäblich in ihrem vielen Bier. – Schlimmer noch waren die betrunkenen Arbeiter, die mich in Kiruna am Ausgang der Werkkantine mit ausländerfeindlichen Flüchen erschreckten. Dabei wollte ich mich mit ihnen über ihre Arbeit unterhalten! (Meine Schuld.)
Sonst ist aber das Verhalten „der“ Schweden (und Norweger) eher ruhig, vielleicht auch, besonders in Provinzstädten, etwas langweilig (das hörte ich von einer deutschen Musikerin über Norwegen), für den Besucher aber angenehm: Sorgfalt und reelle Leistung ohne Barschheit und Angeberei; auffällig auch die große Toleranz dieser „reinen Germanen“, mindestens damals und im Vergleich zu deutschen Landen, wo ein Teil der Bevölkerung besonders „germanisch“ sein will. (Diese Leute sollten ihre Vorbilder genau studieren: die Wikinger waren in Sizilien und Frankreich von der dortigen Kultur so angetan, dass sie sich in zwei Generationen integrierten, die weitere Blüte dieser Kultur förderten und sie sogar – aus der Normandie nach England – exportierten.)
Die entspannte Art der Effizienz hat wohl auch mit dem Gemeinschaftssinn und der starken Arbeiterschaft in Schweden zu tun (gehabt?). Darüber hinaus hat sich ein Gefühl für die Gemeinsamkeiten Skandinaviens entwickelt, das nicht überschätzt werden soll, aber es immerhin etwa einer älteren Dame aus Norwegen, mit der ich in einem Zug ins Gespräch kam, leicht machte, Schwedin zu werden, als Norwegen Mitglied der NATO wurde – wobei sie mir von diesem ihren Schritt recht unemphatisch berichtete und überhaupt eine ganz nüchterne Persönlichkeit zu sein schien.
Das norwegische Fernsehen brachte endlose Vorträge ernster Männer, für die der Bildcharakter des Mediums ganz überflüssig war – eine besondere, vielleicht inzwischen wegglobalisierte Eigenschaft in der damals von nationalen Verschiedenheiten noch stark geprägten TV-Landschaft.
Über Finnland las ich 2009 in den Werken des spanischen Essayisten Angel Ganivet, dass schon zu seiner Zeit, um 1895, dort nicht nur völlige Autonomie (unter russischer Oberhoheit) herrschte, sondern auch Schlankheit und Emanzipation der Frauen, starker Gemeinschaftssinn und andere skandinavische Charakteristika, die ich damals dort nicht vermutet hätte. – So entsann ich mich, wie attraktiv und elegant mir die Frauen Helsinkis vorgekommen waren, blond und zugleich lebhafter als die „eigentlichen“ Skandinavierinnen, vielleicht auch nur, weil das Finnische aus der Ferne ja wie Ungarisch klingt; oder, weil ich in einem richtig kontinental, ja österreichisch aussehendes Kaffeehaus saß, als ich sie sah.
Als Reisender kann man in Schweden und Dänemark eine ästhetisch ansprechende, altmodische Behaglichkeit genießen, z. B das Vergnügen, in einem großen Frühstücksraum mit abgetretenen Teppichen, alten, immer wieder polierten Paneelen und Servietten aus weißem Leinen das Frühstück von der adretten Tochter des Hauses serviert zu bekommen, während das Sonnenlicht durch die Gardinen flutet – draußen steht auf dem fast autofreien Platz vor der gelb verputzten Fassade des stattlichen Gasthauses („Krog“) ein großer Laubbaum auf einem Fleck hohen Grases; ein anderes Mal durch eine enge gepflasterte Gasse zwischen den weiß- oder rot getünchten Wänden niedriger Häuschen zu gehen, vorbei an Fenstern mit weißen, hie und da abblätternden Rahmen und Rüschengardinen – fast streift man die hochgebundenen Zweige roter Rosen; oder auf einer großzügig gebauten Schiffsanlegestelle mit grauen Bodenbrettern und geschnitzten weißen Holzgeländern zu promenieren.
Eine Freude waren auch die Museen, in denen ich von einigen der wenig berühmten Genre-Bilder (von und über Bürgerliche) und sentimentalen Werke berührt wurde (so ein Bild: „Das kranke Mädchen“, und eine Familie am Frühstückstisch, auf den ein noch kleines Kind hinaufzuschauen versucht); und die Schlösser Drottningsholm und Schloss Haga, vornehm an den weiten, sommerlich glänzenden Wasserflächen ihrer Seen gelegen, diese von bewaldeten Ufern ohne Siedlungen eingefasst, so dass sich der Eindruck einer jenseitig des Schlosses unberührten Natur einstellt. Auch herrschaftliche Wohnhäuser sind oft klein und biedermeierlich, mit Bretterböden unter ihren geschmackvollen, sparsam verteilten Möbeln; die Wände innen und außen meist aus hellem Holz, stehen sie in Gärten zwischen Obstbäumen, so dass alles ganz naturverbunden wirkt, luftig, warm und zugleich frisch: zweifellos machen die Menschen hier das Beste aus ihren kurzen Sommern.
Gleich nach der Ankunft in Schweden durchquert der Zug das früher dänische Schonen, dessen fruchtbare Landschaft in leicht gebogenen Getreidefeldern abrollt; in den Nischen zwischen ihren sanften Schwüngen und hie und da auf den runden Horizonten ihrer Hügel stehen geballte kleine Gruppen dunkelgrüner Laubbäume, wie auf manchen Jugendstil-Bildern.
In Norwegen großartig auch die Berglandschaft auf der Bahnfahrt von Narvik nach Kiruna; dann wird es flacher und mückenverseucht in Nordschweden, in der Nähe Lapplands, bis Arvidsjaur und weiter bis Östersund, wo nach zwei Tagen Bahnfahrt durch menschenleere, eintönige Wälder erstmals wieder Felder, Wiesen und bunte Häuser erfreuen, willkommene Zeichen menschlicher Zivilisation. Der immense Wald des hohen Nordens besteht nämlich fast zur Gänze aus dünnen, schnell wachsenden Bäumen, die man ständig vorüberziehen sieht, ohne den Reiz von Bodenerhebungen oder Aussichten auf niedriger gelegene Gegenden. – Anders die Fahrt an der Küste Nordschwedens: die Bahn fährt über breite quer verlaufende Hügelrücken, die großartige Ausblicke auf riesige Waldgebiete und die Meeresstrände freigeben, besonders von den Brücken, auf denen man die sie trennenden (ebenfalls von West nach Ost gehenden) Gebirgsflüsse überquert.
Die finnische Wald- und Seenplatte wirkt auf einer Reise „zu ebener Erde“ nicht so einladend aus wie auf Luftaufnahmen, denn das hübsche Ineinander von Bäumen und Wasser sieht man in der Horizontale nicht bzw. nur stückweise.
Die skandinavischen Hauptstädte sind durch ihre Lage am Meer und ihre vom Krieg verschont gebliebene Architektur beeindruckend (nordischer Jugendstil und Art-déco, besonders Helsinki auch klassizistisch). Wie stimmungsvoll waren etwa ein Abend an der Strandpromenade von Helsinki, und die Halbinsel Waldemarsudde bei Stockholm mit der Villa und den Jugendstil-Bildern des schwedischen Prinzen Eugen, wie lebenslustig schon das Warten auf das Schiff dorthin auf dem besonnten Quai unter den Leuten!
Auf einer Reise nach Dänemark im Dezember 1999/Januar 2000 blieben meine Frau und ich zunächst in Christiansfeld in Südjütland, eine (bis 1920 deutschsprachige) Siedlung der Mährischen Brüder, die der dänische König gerufen hatte. Dort sollte es am Weihnachtsabend einen Gottesdienst mit schönen Kirchenliedern und dann einen Umzug der choralspielenden Blasmusik geben; dieser entfiel, weil sich die graue, feuchtkühle Luft, in der wir die Reihen einfacher, auf dem Boden liegender Grabplatten des Brüderfriedhofs bestaunt hatten, mit nun herabströmendem Wasser gefüllt hatte; der Pastor und seine Frau aber, von denen wir die Programmänderung erfuhren, luden uns zugleich zur Teilnahme an ihrem häuslichen Weihnachtsfest ein! So hüpften wir mit der Familie und einem weiteren Gast, einem afrikanischen Pastor, um den Weihnachtsbaum, hatten es warm und nett, ließen uns Rotwein und Leckerbissen schmecken und fuhren schließlich mit dem Taxi in den „Krog“, das Landgasthaus weiter draußen, wo es am nächsten Morgen ein gutes dänisches Frühstück gab.
Der Reiz des Insulären - Großbritannien
1955 wurde ich zu einer Familie, Bekannte meiner Mutter, in Seaford an der englischen Südküste geschickt, wobei in den drei Wochen auch Brighton und London (je ein Tag) besichtigt wurden; erstaunlich und peinlich waren für mich nach der herrlichen Überfahrt übers Meer die Einreiseprozedur: in der Warteschlange für „All others“ – als „British subjects“ nämlich – ließ ich meine Aktentasche oder Mappe stehen, worauf ich zu einem Polizisten sagte:„I forgot (!) my m a p“, und er sie unbeirrt bei den Wartenden hinter mir fand, zwischen die ich mich nicht getraut hatte; von einem anderen Bobby schließlich zum Einreisekontrolleur hinter einem hohen Pult gewinkt, steckte ich nach einer Unterschrift fast seinen Kugelschreiber ein; damit nicht genug: in der Victoria Station erlebte ich mein erstes Selbstbedienungsrestaurant, in dem ich den halben Inhalt meiner Tasse Tee vom Tablett auf das Kleid einer Dame goss − ihr Aufschrei gellte mir durch die glücklicherweise große Halle nach. – In dem ersten der britischen Züge, die mir damals wie Spielzeugversionen unserer 1. Klasse vorkamen (nicht mehr!), nach Lewes, fragte ich mit englischer Höflichkeit eine alte Dame und ein junges Paar, bevor ich mir die Jacke auszog; nachher schlief die Dame ein, und die beiden Jungen knutschten aufs heftigste.
Auf einer späteren Rundreise in England und Schottland schaukelten meine Schwester (damals Au-pair im Lake District) von Südwestengland bis Aberdeen im Norden Schottlands größtenteils im Oberdeck von Doppeldeckerbussen durch die sommerliche Landschaft. Die Seebäder Margate (mit dem Haus von Charles Dickens) und Ramsgate sind etwas schäbig, wie die nordwestenglischen Bäder, auch das Publikum: die englische Arbeiter schienen ärmlicher gekleidet als die deutschen. Meist aber sind die Uferpromenaden der südenglischen Seebäder ein eigenes, erfreuliches Phänomen mit ihrem Rasen, den Blumenbeeten und weißen Holzpavillons und -bänken, gerade doch auch fremd genug, und an einer oft rauen See, um trotz der dürftigen, grellbemalten Imbisskioske kein Gefühl kleinbürgerlichen Kitsches aufkommen zu lassen. Manchmal, so in Dover, konnten wir am Abend nichts mehr zu essen zu finden außer in Pubs, weswegen ich einen „publican“ dazu überredete, mich mit den Kindern doch in einem Winkel zu bewirten. (Kinder, bis mindestens 1967 auch Frauen ohne Begleitung, durften an sich nicht in Pubs hinein.)
Richtig sommerliches Badeleben gab es in Bournemouth, Torquay und dem überlaufenen Paignton; dazwischen vornehmer und kühler in Sidmouth: im feinem, alten Luxushotel war der alte Kellner gütig, die meisten Gäste aber Snobs, außer bezeichnenderweise einer Familie jüdischer Herkunft, mit der wir nun schon seit Jahrzehnten in Kontakt sind, und – immerhin – einem Herrn, der unserem Söhnchen Croquet beibrachte.
Dann Wales: Bergbauorte wie Merthyr Tydfil, z.T. verarmt und nach Unglücksfällen verlassen. Die Leute kamen mir kleinlicher und spöttischer als in England vor: ein keltisches Charakteristikum? Wir machten ähnliche Beobachtungen in Frankreich und Irland; aber ebenso gut waren das irrelevante Einzelfälle. Von den sehr schönen, erhebenden Kirchenlieder auf Walisisch hörten wir einige bei den uns freundlich begrüßenden Methodisten in Fishguard (wo die Franzosen im 18. Jahrhundert vergeblich versuchten, einen Aufstand gegen England anzustiften, wie sie auch vergeblich versuchten, den irischen Aufständischen zu helfen).
Und Schottland: Abgesehen von seinem eindrucksvollen Jugendstil gibt es in Glasgow auch Anlegestellen für kleine Ausflugsschiffe, die durch den Firth of Clyde, die Stätte großer früherer Werften, zu den Kyles of Bute fahren, in eine atemberaubende Meeres- und Berglandschaft; auf Deck ein Dudelsackspieler, dessen – mich begeisternde − Musik zu einer Spende für die Seerettungsgesellschaft motivieren soll: die britisch-gemütliche Art, moralisch zu sein, mit Tee und „biscuits“, und das mit frischem Wind und der Natur jenseits des Schiffsdecks – schon auf einem solchen zu stehen ist ein Vergnügen.
Edinburgh hat, wie Budapest, eine hochgelegene Altstadt und eine ebene neue Stadt, mit der Donau bzw. den Princes Street Gardens dazwischen; und ähnlich sind auch in der Geschichte beider Länder heroisch verlorene Kriege auffallend, mit ähnlichen emotionalen Folgen: als mich ein junger Handwerker beim Autostoppen mitnahm und wir bei Culloden vorbeikamen, war er fast entrüstet, dass ich das nicht geahnt hatte.
Überall in Britannien finden wir „Kontinentale“ eine uns fremde Mischung aus Strenge und Bequemlichkeit: die Hausfassaden haben (wie in Nordamerika) eckig-nüchterne Linien, die Innenräume klassizistische Möbel neben Nippes über Sofas und Fauteuils mit zerbeulten Polstern; in den Parks der Rasen makellos, die Geländer schon klumpig von den vielen Anstrichen und die Bänke glatt, wodurch ihre altmodischen Rundungen noch sitzgerechter wirken; vieles ist alt, da nie zerstört, wobei ab ungefähr 1985 viel neu gebaut wurde, meist wieder in einem herben, quasi moralisierenden Stil.
Während eines Schuljahres als „Assistant for German“ fiel mir aber doch der englische Klassendünkel an der Eliteschule in Manchester auf. Die Schüler fanden die humorvolle Art der Bus-Schaffner (die gab es damals noch) nicht witzig. Der französische Assistent und ich durften die Sekretärinnen nicht zum Schulball einladen, worauf wir auch nicht gingen. Dass ich, obwohl nur ein paar Monate, in der Upper Mosley Street und nicht in der Lower wohnte (oder umgekehrt), wurde von den englischen Kollegen mit Bedauern kommentiert: keine feine Gegend! (Dabei war das gesamte Stadtzentrum, schon ursprünglich in düsterem roten Backstein erbaut, im inzwischen abgelagerten Ruß und bei abnehmendem Reichtum deprimierend.) Einer der Deutschlehrer, die mich zu sich einluden, entschuldigte sich, dass er in einem Wohnblock wohnte, statt im eigenen Ein-(höchstens Zwei-) familienhaus: er sei noch Junggeselle, sein Elternhaus sei anderswo.
Als ich 50 Jahre (!) später mit meiner Frau "mein" Haus in der Moss Side suchte, war diese zu einer hochkriminellen Gegend geworden. Wir wussten das aber nicht, und ich fragte ein ca. 13jähriges Mädchen (mit unreiner Haut und ärmlich gekleidet) nach dem Haus: es war inzwischen abgerissen worden; als meine Frau dem Mädchen den Grund meines Fragens erklärte, sagte dieses zu seiner ungefähr acht Jahre alten Begleiterin: "Imagine - 50 years ago!" Und beide lächelten uns zu.
Ein anderes Beispiel: Zwei Wochen lang war ich einmal ehrenamtlich „supervisor“ in einem Sommerlager an der walisischen Küste, von einer Quäkerfamilie für „working-class“-Kinder aus London gestiftet, die noch nie das Meer gesehen hatten. Ein kleines Mädchen sollte mir ihren Namen sagen. Da ich ihn nicht ganz verstand, ließ ich ihn mir buchstabieren und wiederholte ihn dann in meiner Schul-Aussprache: „Well, yes“, sagte sie, „if you pronounce it the posh way“, in der vornehmen Aussprache!
Meine „Bude“ in Manchester war übrigens wirklich ohne Luxus, das Winterhalbjahr von einer deprimierenden feuchten Kälte – da freute ich mich über das Geigenspiel in einem anderen Zimmer des Hauses; als ich dem – englischen – Musikstudenten einmal begegnete und sein Spiel lobte, herrschte freudiges Erstaunen, dann wurde ihm alles klar: ja, wenn ich vom „Kontinent“ sei... in England, sagte er, zählten die Musiker zum „lunatic fringe“, zum „verrückten Rand“ der Gesellschaft. – Kaum war ich auch zweimal im Konzert gewesen, als mich studentische Konzertgänger fragten, ob ich nicht Mitglied des „Hallé-Clubs“ werden wolle. Ich wurde, und nach einem weiteren Konzert gingen wir in die Kleinwohnung eines der Mitglieder; der Unglückliche legte eine Platte mit Beethoven auf, während er nebenan für uns Kaffee kochte; keiner sagte etwa, dass wir an dem Abend ja schon reichlich Klassik genossen hätten – aber nun hieß es: „Oh, he is always so full of himself“...
Einer der Physiklehrer hatte eine Ungarin geheiratet und war auf der Hochzeitsreise auch in Wien gewesen; er lud mich und auch den französischen Assistenten zum Abendessen zu sich ein, wo ich zu meinem Entzücken entdeckte, dass es Backerbsensuppe geben sollte; ich rang nach Worten, um eben diese Suppe zu bezeichnen und zu loben, als mein Kollege – „typisch französisch“ – ausrief: „Ah, Monsieur Tumler hat gemerkt, dass es eine Suppe gibt!“ Mit fiel darauf nichts ein und ich ärgerte mich. Über ein Jahr später aber, als ein englischer Deutschlehrer von der Schule nach Wien kam, um Sprecher im englischsprachigen Dienst des ORF zu werden, sagte er mir, jener Physiklehrer habe dann in der Schule erzählt, was für ein Gentleman ich sei: auf die Frechheit des Franzosen hätte ich nur geschwiegen! Ein „nationales Missverständnis“ einmal positiv.
Andererseits: ein Musiklehrer fragte mich eines Tages, ob ich wüsste, was die Worte „Allegro ma non troppo“ hießen; naiv bejahte ich und sagte sie auf Englisch; oh, antwortete er, er habe gedacht, es sei eine Widmung...Witz, Witz!
Wirklich witzig waren manche der Themen formuliert, welche die Schüler den Sitzungen ihres Debattierklubs gaben, wo je zwei Sprecher für und gegen den Antrag sprachen, über welchen die Versammlung dann abstimmte, z.B.: “This House thinks that Marks and Spencer (der Warenhauskonzern) have done the world a lot more good than Marx and Engels“.
An der „besten Schule im besten Schulsystem der Welt“ − Worte ihres Direktors bei der Konferenz zum Schuljahrsbeginn − flog, gerade als er das sagte, ein abgebranntes Streichholz an meiner Nase vorbei in den Kamin: ein Lehrer hatte sich die Pfeife angezündet. (Die Mängel des englischen Schulsystems sind ja bekannt: zu frühe Spezialisierung in rigorosen Leistungsgruppen, deren Hierarchie scheinheilig und vergeblich hinter verwirrenden Bezeichnungen verborgen wird.)
Als ich - 2018, eben nach 50 Jahren - die Schule wieder besuchte, wurde ich von einem Deutschlehrer, der 1967/68 dort Schüler war, und den Archivaren herzlich empfangen. Die jungen DeutschlehrerInnen sprachen sehr gut Deutsch, wie die damaligen; und wenn ich damals staunte, dass die Deutschschüler ohne Spezialfach Geschichte nicht wussten, warum es in Deutschland britische Besatzungstruppen gab, so musste ich nun vernehmen, dass die jetzigen westdeutschen Austauschschüler nicht wussten, warum es die Berliner Mauer gegeben habe.
Da ich mich mit dem Gedanken trug, nach England auszuwandern – ins Land der Demokratie, Fairness und vornehmen Zurückhaltung, die ich mir aneignen wollte – hatte ich übrigens auf dem Weg nach Manchester Elias Canetti in London besucht, um ihn zu fragen, wie er das Leben in England gefunden habe. Er empfing mich ganz freundlich, sagte aber, er könne darauf kaum antworten, da er immer nur mit seiner Frau in Hampstead unter anderen Emigranten gelebt und auf Deutsch geschrieben habe; die Engländer ließen einen in Ruhe, das stimme schon...aber er schien nicht gerade begeistert.
Die englische Zurückhaltung beruht aber wohl nicht nur auf Gleichgültigkeit, sondern auch auf Diskretion, und sie mag auch Ausdruck des Vertrauens darauf sein, dass jeder selbst sein Leben meistert; man wird offenbar im Stillen beobachtet: sowie Hilfe nötig wird, sind die Leute da und greifen helfend zu. In Stirling (Schottland) kletterte bei einer Vorführung schottischer Tänze unser kleiner Sohn die niedrige Böschung hinauf, die den Rasen der „Bühne“ von jenem der Zuschauer abhob, und „inspizierte“ die Musiker; als er sich dann nach kurzem Zögern die Böschung auch wieder hinunter traute, klatschten die Zuschauer.
Die Vorliebe der Engländer für eigene Häuser in eigenen Gärten führt sie dabei auch zu ihrer Art großer Gastlichkeit: man darf immer wieder ein paar Tage bei ihnen, mit ihnen wohnen. Zu den britischen Sitten, denen man dabei begegnet, gehört auch eine für uns ungewohnte gelegentliche Ungezwungenheit – etwa wenn der Hausherr frühmorgens dem Gästepaar ganz ungeniert den „early morning tea“ ans Bett bringt.
Unsere englischen Freunde waren die beständigsten Briefeschreiber, und nach weiteren Jahren brachten wir unsere nun halbwüchsigen Kinder zu ihnen, − seltener kamen ihre zu uns, mussten ja auch die Sprache nicht lernen. Erst im letzten Jahrzehnt sind von den alten Freunden einige zu uns gereist. Vorerst aber gab es für uns weitere Besuche des Inselreiches. Freunde im idyllischen Shropshire zeigten uns die frühindustrielle Anlage von Ironbridge. – Dann zu der Siedlung Lever, im Edwardian Style um 1900 bei Birkenhead von den Eigentümern von Unilever für ihre, wir sagen heute: Mitarbeiter, errichtet. (Die afrikanischen Arbeiter auf den Gummiplantagen der Firma im Kongo bezahlten mit ihrem Schweiß und Blut für diese philanthropische Gartenstadt.)
Sheffield – die Sozialbauten der fünfziger und sechziger Jahre sind inzwischen deprimierend. In Manchester habe ich mit meinem Sohn die durch Engels berühmten früheren Slum-Areale angesehen, die jetzt nur noch langweilig sind, nicht mehr elend. Hinüber nach Liverpool in ein noch richtig altes, herb-gemütliches und preiswertes englisches Hotel; zehn Jahre später war die Stadt sehr herausgeputzt, mit ganz netten Museen und Lokalen am Hafen, zwischen denen aber die früher sich hellgrau über den weiten Mersey türmenden Schiffsfahrtspaläste verloren wirkten.
Wieder in Schottland, nach Oban: ein Sturm wütete selbst in der Hafenbucht, vom Hotelzimmer gemütlich anzusehen, und von der Lounge mit einem Whisky; man konnte die Tür nach draußen wegen des Windes nicht aufmachen. Am nächsten Tag fuhr aber das Schiff doch zur Insel Mull, über deren Weideland wir im Bus vom Wind getrieben wurden, dann auf einem robusten Schiffchen die stürmische Überfahrt, wenn auch sonnig, zur Insel der irischen Missionare, Iona: so klein und flach und ländlich! – Eine Kuh wurde von einem Hund den Fahrweg hinunter gejagt, meine Frau wich mit den Kindern in die Böschung aus, ich aber war weiter vorne, hatte mehr Zeit und im Mühlviertel als Kind Kühe gehütet, öffnete der Kuh ein Gattertor, das sie freudig durcheilte, und scheuchte den Hund zurück, indem ich ein Stückchen Holz in seine Richtung warf; er sah ja auch, dass ich die Sache in seinem Sinne erledigt hatte.
Die Rückfahrt ebenfalls bei hohem Seegang, der rosa Säulenblock der Insel Staffa war daher nur in der Ferne über Schaumkronen zu sehen, die Fahrt dorthin in Nachfolge Fontanes war ausgeschlossen.
Stürmische Überfahrt auch zu den Hebriden. Unser Sohn und ich wurden nicht seekrank, meine Frau und Tochter litten. Die Inseln Barra und South Uist wurden angelaufen, von letzterer ging es in einem Tagesausflug mit einer kleiner Fähre zur Insel Eriskay, wo sich Katholiken gehalten haben und wo der Roman „Whisky Galore!“ spielt, weswegen wir in der Kneipe der Anlegestelle ein Gläschen leerten.
Schließlich auf der Rückfahrt im englischen Harwich der Hafen stimmungsvoll in der Abenddämmerung vor der Abfahrt der Fähre nach Hoek van Holland. Früh am nächsten Morgen brachte der Steward uns Tee und Kekse in die Kabine.
Die grüngraue Insel - Irland
(„Grün“ und „grau“ heißen beide glas im irischen Keltisch, und die Berechtigung dieses Ausdrucks erkennt man beim häufigen Blick durch Regen auf Gras.)
Das katholische Irland, 1999 mit Erwartungen von Heinrich Bölls „Irischem Tagebuch“ für drei Wochen betreten, erwies sich als eine Kette bekannt romantischster Küstenlandschaften an den Tagen, wo es nicht nieselte, und als eine Mischung alter Schäbigkeit und neuen Reichtums – viele Autos auf schlechten Straßen mit unangenehm improvisierten Haltestellen am Gehsteig für verspätete Überlandbusse: alles Mängel, die mit Überschreiten der im Terrain unsichtbaren Grenze nach Nordirland – ohne jede Kontrolle − verschwanden.
Der vielgelobte Witz war nur gelegentlich in Pubs zu genießen, wenn die Gäste leicht berauscht waren, d.h. bevor sie richtig betrunken wurden. Aber als ich versuchte, der hinter Büschen verborgenen klassizistischen Gartenfront des Royal Hospital ansichtig zu werden, stieß ich zwischen den Stauden auf zwei ungefähr Elfjährige, die ein Fahrrad reparierten oder zerlegten; nach kurzem gegenseitigen Staunen fragte der eine: “Would you be looking for the Royal Hospital façade?“ und führte mich zu einem Durchblick.
In Nordirland gab es einen „blinden“ Bombenalarm in einem Kaufhaus (alle wurden von plötzlich auftauchenden PolizistInnen für eine halbe Stunde höflich aus dem Gebäude getrieben)...und einen abendlichen Feueralarm im Hotel in Belfast, den mein Zigarrenrauch verursacht hatte; noch in derselben Nacht ging dann aber das – bereits leere – Lokal im Haus nebenan in die Luft, was das Frühstück unter den anderen Gästen am nächsten Morgen für mich nicht merklich entspannte. Am Abend davor hatte mir ein katholischer Anwalt von den Drohungen erzählt, die er bei Verteidigung von IRA-Leuten erhielt.
Mit meiner Mutter war ich schon 1995 auf zehn Tage in Irland, hauptsächlich in einem anglo-irischen „country house“, an dessen vornehmen Frühstücks- und Abendtisch auch ein „gemischt-konfessionelles“ Paar saß; diese beiden sahen einen Grund für die Verlängerung der Gewalttätigkeiten darin, dass man den IRA-Kämpfern noch keine Chancen in Zivilberufen geboten habe, und fürchteten ein Abgleiten in die Kriminalität; in gutbürgerlichen Kreisen (in denen sich zu wenige Katholiken befänden) gebe es auch in Nordirland gegenseitige Verständigung, so bei ihnen.
Inzwischen hat ja England, der Attentate überdrüssig, unter dem sonst vielgeschmähten Tony Blair die Protestanten zu einem Kompromiss gezwungen, und das Blutvergießen fand ein Ende.
Die Zweischneidigkeit der Geistesschärfe - Frankreich
Mit einem Offizier der französischen Garnison in Berlin, Saint-Saëns (aus der Familie des Komponisten), der in den frühen fünfziger Jahren im Haus meiner Großeltern verkehrte, freundete ich mich an, da er auf meine Vorwürfe wegen des Vorgehens Frankreichs gegen den König von Marokko nicht in der üblichen Erwachsenenart etwa zu meiner Mutter galant sagte, was für ein aufgewecktes Söhnchen sie doch habe, sondern ganz ernst und lebhaft mit mir diskutierte: sehr französisch, wie mir viele Jahre später klar wurde…und mich ein paar Tage später, als ich auf einem Weg über den Kurfürstendamm am Maison de France vorbeikam, auf dessen Terrasse er saß, zu sich winkte und mit mir „einen Apéritif“ trank.
Ähnlich „typisch“ war die Begegnung, die meine Mutter, mein Bruder und ich dreißig Jahre später in den Wäldern nördlich Berlins hatten, als wir den Stechlin suchten; wir fanden ihn nicht, bis wir auf einen Jeep mit zwei französischen Soldaten stießen (die Westalliierten patrouillierten gelegentlich auch in der DDR, um ihre Rechte zu manifestieren), die uns eine Schneise zeigten, die zum See führte: „Bien sûr, Madame, le lac de Fontane“, und, als wir auf das Verkehrsverbotschild hinwiesen: „Mais il faut absolument, on y va tout de même.“
In Frankreich selbst überraschte mich die Inhaberin eines Souvenirladens mit dem grundlosen Zuruf, ich möge die Ansichtskarten nicht durcheinanderbringen. Ich hatte solch kleinliches Verhalten nach allem, was ich vom „Leben wie Gott in Frankreich“ gehört hatte, nicht erwartet.
Eher schon den Spott einer Schalterbeamtin in Lyon, bei der ich eine Karte nach Dijon über Le Creusot kaufte, und die nicht einsah, warum ich in dieser ehemaligen Industriestadt unterbrechen wollte. Sie und der neben ihr sitzende Kollege lachten mich wegen des Umwegs geradeswegs aus… (ich tröstete mich mit der Erinnerung an eine andere Bahnhofsszene in Frankreich: vor mir wurde ein Soldat in Uniform von der jungen, hübschen Schalterbeamtin beschimpft, weil er seine Papiere nicht alle mithatte. Besorgt sich wirklich jemand eine Uniform, um billiger Bahn zu fahren?)
Auf einer späteren Frankreichreise aber besichtigte ich La Roche-sur-Yon wegen seiner napoleonischen Häuser und Empire-Kirche: beides war öde; aber der Schaffner des Zuges, mit dem ich nach La Roche fuhr, war wieder auf dem Zug, mit dem ich ein paar Stunden später von La Roche weiterfuhr: er hatte sich gewundert, dass ich dort unterbrechen wollte und ließ sich danach die Stadt von mir beschreiben, anerkennend, dass auch gewollte Ödigkeit interessant sein könne.
Während der Schüleraustausch-Aufenthalte des Schottengymnasiums Wien, wo ich unterrichtete, mit einer „katholischen“ Schule in Melun in den neunziger Jahren zeigte sich Frankreich von seiner schlechtesten Seite. Der Höhepunkt der Arroganz war ein „pädagogisches“ Gespräch des Schuldirektors mit einer Mutter, die empört war, dass „ihr“ Österreicher mit ihrem Sohn (das Alter der Austausch-Schüler war 17) auf ein Bier gehen wollte. Als der Direktor das mit unseren Sitten in dem „sonst“ sehr sicheren Wien erklären wollte, rief diese Dame (in meiner – stummen – Anwesenheit!), dass sie die Lebensart der Österreicher überhaupt nicht interessiere! Ich hätte ihr gerne geantwortet, dass dies aber der einzige Nutzen dieses Austausches sei, denn der sprachliche war minimal. Das Französisch unserer Schüler war ungenügend, die französischen Schüler konnten überhaupt kaum Deutsch.
Reise ins Elsass 2009: Neuf-Brisach/Neubreisach, das unter dem frustrierten Eroberer Ludwig XIV. als Festungsstadt (von Vauban) gegenüber dem vorderösterreichischen Breisach gegründet wurde, bot ebenfalls gelangweilten Provinzklassizismus und (inzwischen) bukolisch begrünte riesige Wallanlagen.
Da ich gelesen hatte, dass der Ort ursprünglich nur mit katholischen Franzosen (keinen evangelischen deutschen Elsässern) besiedelt werden sollte, fragte ich die junge Dame im staatlichen Tourismusbüro, ob also hier vielleicht weniger Deutsch gesprochen werde als in der übrigen Region; sie aber konnte kaum Deutsch und leugnete dessen Existenz im Elsass. Meine Frage beantworten dann andere Bewohner, Kunsthandwerker einer Straßenausstellung, mit Lachen über jenes Fräulein verneinend; sie sprächen Deutsch wie ihren Dialekt sowie Französisch; sie luden mich herzlich zu ihrem Buffet ein, kannten Österreich, schwärmten von Wien; waren von der EU angetan, ebenso wie übrigens später ein junger Luxemburger (ebenfalls mindestens dreisprachig), mit dem ich im Zug von Basel nach Colmar sprach; er arbeitete im schweizerischen Freiburg.