NORD- UND SÜDAMERIKA UND KARIBIK
Wohlhabendes Wohlwollen − die USA; mit französischem „Biss“: Kanada
Im Sommer 1978 (die Kinder sind sechs und vier) in Boston. Auf dem abendlichen Heimweg zum Hotel nahmen wir dummerweise eine Abkürzung durch eine unsichere Gegend. In eine schmale Gasse biegend, prallten wir vor einem auf dem Boden liegenden Mann zurück, der etwas Blut neben sich hatte, und einen schweigend dabeistehenden Polizisten.
Im Hafen von Boston am Tag darauf ein Vergnügungsdampfer der hiesigen portugiesischen Kolonie, d.h. auch der traditionsreichen Hochseefischer von Cape Cod: welche Chancen doch Amerika seinen Einwanderern bietet oder bot!
Im gemütlichen Vorortzug in eine Kleinstadt nördlich von Boston zur Witwe eines Großonkels von mir; er war 1914 während der Sommerferien bei Kriegsausbruch in England interniert und nach Kanada verschickt worden, von wo er in die USA gehen konnte und schließlich ein beliebter Lehrer an der angesehenen Phillips Exeter Academy wurde.
(Bei meinem Besuch 2011, 33 Jahre später, rattert der Zug aus Aluminium noch genauso durch die Landschaft; man muss seine Fahrkarte an der Rücklehne des Vordersitzes feststecken, von wo sie der Schaffner, in einem Gilet mit Uhrkettchen, mit einem Grußwort herausnimmt. Da ich meine Großtante nicht warten lassen wollte, hatte ich einen Zug früher genommen und setzte mich bei der Haltestelle auf eine Bank. Als unser Zug zurückkam, hielt er nicht, offenbar war kein Bedarf. Aber der Schaffner sah mich aus einer offenen Tür und rief mir zu, ob ich mich geirrt hätte und gleich wieder einsteigen wollte. Jch verneinte fröhlich und sah ihn vier Tage später auf der Rückfahrt wieder.)
Die intellektuelle und dennoch bescheidene Großtante machte (1978) amerikanisch-rüstig in ihrem Auto schöne und interessante Ausflüge mit uns im herb-pittoresken Neuengland, z. B zu der kleinen Hafenstadt Gloucester, dem Schauplatz des sentimentalen und humorvollen Filmes „Die Russen kommen“.
Wir wollten etwas vom durchschnittlichen Inland sehen, flogen daher von New York über das weite amerikanische Land nach Omaha, wo wir nach kurzem Rundgang zwischen Backsteingebäuden − Nüchternheit von der Sonne überbacken − einen Bus über die Sandbänke des Platte River nach Lincoln nahmen; der Regierungssitz amerikanischer Bundesstaaten, hier von Nebraska, ist ja oft eine Kleinstadt (in den Großstädten dieser Demokratien wäre doch zu viel Volk), welche dann überdimensionale Regierungsgebäude, aber auch zierliche kleine Kapitole aufweist, In Lincoln war es glühend heiß zwischen modernen Gebäuden, gute Museen, innen „air-conditioned“. Dort holte uns eine Flugbekanntschaft ab, die uns spontan zu sich eingeladen hatte, eine ganz propere Geschäftsfrau, die sich zu Hause nach einem freundlichen Abendessen mit ihren Kindern (die dann zu einer Party entschwanden) als eine Art Fundamentalistin entpuppte. In der Nacht hob sie einen Singsang an, „to bind over Satan“: wir als Katholiken seien von ihm besonders bedroht. Am anderen Morgen schien das verflogen, wir bekamen ein gutes Frühstück im Garten mit einer adretten Nachbarin, freundliche Verabschiedung am Busbahnhof.
Von dort im damals noch anständigen Greyhound-Bus durch die Prärie! Ein Tag über das rollende Grasland Karl Mays, gelbgrün mit schwarzen Tupfen in einiger Entfernung: die Büffel (bzw. Bisons)! Das Tagesziel war Ogallalla (nach den Ogallala Sioux benannt): dort wurden in einer Wild-West-Show unsere Kinder auf die Bühne gerufen und als „Hilfssheriffs“ vereidigt, wobei unser Sohn als Linkshänder zunächst den linken Arm hob, was gutmütig, aber doch, korrigiert wurde.
Ein Tag bis Denver mit seinem großzügig angelegten Museumszentrum vor der erhabenen Gebirgskette der Rockies. Auf dem Weg ging es über Cheyenne bei Fort Laramie vorbei! Bei einem Zwischenstopp wollten die Kinder ein Eis von einer etwas entfernten Imbissbude; ich fragte den Fahrer, ob genug Zeit sei, und er dröhnte gemütlich: „You give your children their ice cream, sir, and take all the time they want; this bus won´t leave without you!“. Von Denver im Aussichtszug höchst eindrucksvoll über die Rocky Mountains und durch Teile des Colorado-Tals nach Salt Lake City, wohin die anfangs verfolgten Mormonen den Mittelpunkt ihrer Religiosität verlegten; gerade wird diese Leistung – eine Oasenstadt in der Wüste zu errichten und zu erhalten, anscheinend ohne viel Unrecht gegen Indianer – in einem durchaus fröhlichen Jubiläumsfestzug mit vielen knackigen „majorettes“ recht mondän gefeiert.
Anschließend ins total Mondäne: Busfahrt von ca. acht Stunden bis Reno; der freundliche, witzige Greyhound-Fahrer, dem meine Frau vor mir die Fahrkarte zeigte, fragte mich: „So you are saying, sir, that she is old enough to go there?“
Darauf ein Tag im Bus durch die Berge und herrlich oben am Lake Tahoe entlang, schließlich durch trockenes Weidegebiet, gelbleuchtende Hügel, und hoch über die weite Bucht ins wirklich schöne, relativ europäisch-italienisch wirkende San Francisco; Busfahrten entlang Big Sur noch über dem Meer und zum stillen Carmel, wo wir in leichtem Nebel zwischen den Küstenpinien am kleinen, feinen Strand saßen.
Rückflug von Freunden in Los Angeles nach New York; durch den Zeitunterschied waren auch die Kinder spätabends noch munter, also setzten wir uns in die Bar des literarisch berühmten „Algonquin“ Hotels, wo Theaterbesucher nach den Vorstellungen hinkamen, mehrheitlich Juden, die unser Deutsch erkannten, da sie Jiddisch konnten, und uns nach den Zuständen in unserer Heimat – vielleicht auch der ihrer Eltern – fragten. (Typisch und großartig, sagte meine Mutter später, die vor 1933 jüdische Mitschülerinnen hatte, bei ihnen war der Wissensdurst immer größer als etwaige Antipathien.) – Bei einer späteren Reise besichtigte ich das historische Richmondstown auf Staten Island bei New York: ich befand mich fast nur unter Juden, welche ihren Kindern die restaurierten Holzhäuser zeigten; ich dachte erst, es gebe eine jüdische Feier, aber einer der „Guides“ in diesem Freilichtmuseum sagte mir, es seien immer überproportional viele Juden da, sie seien eben an dieser eher nur lehrhaften, nicht erstrangigen Sehenswürdigkeit besonders interessiert. Auf der Rückfahrt nach Manhattan fielen mir die Kostüme der Frauen im Stil der vierziger und fünfziger Jahre auf, sehr europäisch; eine der Damen sagte mir, sie bekämen sie von ihren Schneidern in Brooklyn, bescheiden gemacht wie damals meist auch.
Ausgangspunkt für einen Ausflug zu den Bergen und Seen im Norden von New York war später einmal Burlington; erstaunlich selbst in dieser Kleinstadt die breiten, geradlinig durch das Gelände aufwärts oder abwärts schwingenden hellgrauen Fahrbahnen des quadratischen Straßennetzes, dabei ältliche, bequeme Häuser.− Bei einem Schiffsausflug auf dem Lake Champlain kamen wir während des Landganges vor der Rückfahrt abseits an einer kleinen Bucht zu sitzen, die Natur um uns scheinbar ohne menschliche Spuren – das Amerika der Imagination!
Über Elmira (mit dem Haus Mark Twains!) nach Philadelphia, von wo in die Gegend der Amish bei Lancaster, Pennsylvania: man konnte sich auf Hochdeutsch mit ihnen unterhalten, wenn man berücksichtigte, dass sie z. B für „Kirche“ „Gmoant“ sagen (Gemeinde: wie ich später erfuhr, eine durchaus bedeutungsvolle Unterscheidung: die „Kirchenleut“ sind die Lutheraner).
Von Washington macht ein kleiner Zug die eindrucksvolle Fahrt im Tal des Potomac zum geschichtsträchtigen Harper´s Ferry und nach Martinsburg – die Landschaft sah der des Mühlviertels ähnlich.
Dann in den „alten Süden“: Besuch bei Freunden, die uns in ihr Holzhaus am Strand mitnahmen, und Charleston, South Carolina, ein „Juwel“ der weißen Herrenhäuser-Architektur. Noch weiter südlich Savannah, dessen Name allein schon fasziniert, und erst seine Geschichte: es wurde von einem britischen General gegründet, der sein philanthropisches Ideal der Sklavenbefreiung hier mit der Überlegung verbinden konnte, im Grenzgebiet gegen das sklavenfreie spanische Territorium von Florida sei Sklaverei ein Risiko. Als die USA später den Spaniern Florida abgenommen hatten, führte auch Georgia die Sklaverei ein und Savannah wurde im Sezessionskrieg von den Truppen der Nordstaaten besonders gründlich zerstört; seine schönen baumbestandenen Alleen, ebenfalls im Rechteckmuster des 18. Jahrhunderts angelegt, wirkten auf uns in der Sommerhitze tatsächlich etwas ausgetrocknet.
Nur die im 18. Jahrhundert aus dem Salzburgischen vertriebenen Protestanten übernahmen die Sklavenhaltung nie. Anders aber als ihre nach Preußen ausgewanderten Glaubensbrüder reüssierten sie als selbst arbeitende Bauern im Plantagenmilieu nicht; doch waren die „Georgia Salzburgers“ lange hochangesehene Bürger.
Weiter nach Süden durch noch wärmere Zonen mit wucherndem Laub und Lianen an den großen Bäumen, an bescheidenen kleinen Holzhäusern vorbei, deren alte Eigentümer auf der Vorderveranda im Schaukelstuhl saßen; aber auch durch triste wirkende Kleinstädte in staubiger Hitze; fast wie Elendsviertel die von Schwarzen bewohnten Straßen, in deren Nähe der Bus oft Station machte.
In New Orleans (vor der jüngsten Katastrophe), wurde unser Sohn von der Musik begeistert, besonders auch beim Besuch eines Gottesdienstes der Afro-Amerikaner und der Improvisation eines Steeldrum-Players. In einem subtropischen Garten bekamen wir „Café Orange brûlé“; die Küche des Südens ist überhaupt vorzüglich. Der alte Süden schien uns auch in manchen anderen Sitten und Unsitten – Eleganz, Intoleranz – „europäischer“ als die USA sonst.
Der breite, schlammige Mississippi-Dampfer mit einer Fahrt auf dem Dampfer bleibt in Erinnerung.
Unsere Kinder hatten einen Tag Läuse, und während ich ein Mittel kaufen ging, fiel ein Platzregen: alles, d.h. am bemerkenswertesten die schwarzen Frauen in ihren bunten Sommerkleidern, lief fröhlich schreiend über die blankgeregnete Straßenkreuzung. – Wir besuchten auch den alten Friedhof mit vielen französischen Namen und fuhren mit der Tram „Desire“, eigentlich ja „Désirée“, zu ihrem Endpunkt in einem Viertel schöner Villen unter schattigen Bäumen.
Obligatorisch für Romanisten: ein Ausflug zu den Dörfern der Cajuns, den im 18. Jahrhundert von den Briten aus der gerade eroberten atlantischen Region des französischen Kanada vertriebenen „Acadiens“. New Iberia und Martinsville, wo Frankreich ein kleines Kulturinstitut unterhält, sehen aber ganz amerikanisch aus. Nordwärts ins Tal des Mississippi! Außer seinen (nicht durchgehenden) Steilufern ist das Land flach und baumlos im Vergleich zum Norden; zerrupfte Baumwollfelder, manchmal Sümpfe mit bizarrer Vegetation. In Natchez schöne „palladianische“ Museums- und Universitätsbauten; im anschließenden Tennessee gibt es ebenfalls schöne Sandsteingebäuden in klassischem Stil, in Nashville; wir erleben eine stimmungsvolle abendliche Theateraufführung im Freien, auf dem Rasen unter Bäumen, wie im Regent’s Park von London.
Von Knoxville ein Abstecher zu der alten Bergbaustadt Middlesboro durch die Appalachen nach Norden, und nach Süden über die Smoky Mountains, schöne Wälder in blauem Dunst, nach Asheville mit dem Haus von Thomas Wolfe. In der Nähe (für amerikanische Verhältnisse) liegt der Hauptort des Cherokesen-Reservats, eine Ansammlung von Holzschuppen mit lebhaftem Touristenmarkt; sonst haben wir Indianer nur auf Martha´s Vineyard gesehen, dort in europäischen Kleidern.
Auf einer Busfahrt lernten wir einen jungen Amerikaner deutscher Abstammung kennen, der uns später mit seinen Eltern und einem Freund besuchte; beide waren Reserveoffiziere bei der US-Armee, die ihnen dafür das (in den USA bekannt teure) Studium bezahlte, und sagten mir, die wichtigste Eigenschaft eines militärischen Anführers für die Mannschaft sei nach ihrer Erfahrung die bescheidene Besonnenheit, die seinen Untergebenen das Vertrauen darauf gebe, er werde sie nicht wegen einer Auszeichnung oder Beförderung „verheizen“.
New York 1992 wieder in der Sommerhitze. Diesmal logiere ich im Hotel „Chelsea“, eine alte Dichterbleibe in Art-déco; gegenüber gibt es einen guten Imbiss bei einem jungen jüdischen Kellner aus Odessa, der mich zu meiner freudigen Rührung ganz locker als „Nachbarn“ (aus Österreich) begrüßt.
Die Greyhound-Busse, auf der Reise davor und auch wieder 2005 schmutziger und mit ärmerem, mürrischem Publikum, sind diesmal etwas besser. Einer von ihnen bringt mich über Binghampton durch das malerisch gewundene Tal des Susquehannah: wieder, welch ein Name! Natürlich indianisch. Das Tal wirkt jedoch „europäisch“ und wurde als solches auch von frühen Malern empfunden und gerne gemalt: die Elemente der landschaftlichen Gestaltung, die Hügel und Mulden, sind nicht, wie sonst häufig in Amerika, zu groß, als dass sie von unserem Blick als ganze erfasst werden könnten. Mein Hotelzimmer in Owego hatte eine Veranda, angenehm aus weiß gestrichenem Holz; von dieser, als ich zigarrerauchend lesen wollte, beobachtete ich ein Gewitter über dem Steilufer auf der anderen Seite des Flusses, der quer zu meiner Blickrichtung halb verborgen zwischen Stauden verlief; dunkle Wolken türmten sich über das Grün der Uferböschung, darauf wurde dieses golden beleuchtet, die Wolken bauschten sich in Tintenfarbe, dann blitzte und donnerte es ganz nah und laut, alles wurde fahl und der Regen rauschte herab.
Weiter ging es über die bronzenen, teilweise begrünten Schlackenkegel früherer Bergwerke vor Harrisburg nach Pittsburgh mit seinem inzwischen sauberen Zentrum aus kühlen Hochbauten, dem „Golden Triangle“, wo sich der Monongahela mit dem Allegheny-Fluss zum Ohio vereinigt…und zu seinen reichhaltigen Museen.
Durch das grüne, gewellte Landwirtschaftsgebiet von Ohio, dem Alpenvorland oder Oberbayern ähnlich, nach Indianapolis und Vincennes: der Name weist darauf hin, dass die ganze Region einmal französisch war, doch sind keine Franzosen mehr zu sehen; aber auf der Straße von der Bushaltestelle zum Ort steht ein fabelhaftes „Reklame“schild: auf schwarzem Grund oben in orangefarbenen Buchstaben „Ever toasted a friend?“ – Darunter ein brennendes Auto, und darunter in Gelb „Friends don´t let friends drink and drive“.
In solchen Dingen sind die Amerikaner erstklassig. Ebenso die Höflichkeit der Aufseherin im Stadtmuseum, diesmal ein schmuckes Mädchen in der Uniform des National Park Service. Ich weiß, man kann das als bieder belächeln, aber diese Eigenschaften des amerikanischen Lebens sollten weiter bekannt sein – und ich kann in missmutigem, nachlässigen Verhalten, wie es in Österreich noch oft anzutreffen ist, keine Qualität sehen, nur die Verwechslung von Zynismus mit Kultiviertheit.
Schließlich nach St Louis, dem Beispiel einer durchschnittlichen amerikanischen Großstadt: sehr einförmig in ihren breiten leeren Straßen mit Häusern in der unzerstörten Modernität der dreißiger bis fünfziger Jahre. Das interessante historische Museum führt mir die französische und bourbon-spanische Präsenz in der Vergangenheit dieses Landes vor Augen. Ein zweiter Versuch, lebendes Frankreich zu finden, und zwar stromabwärts (durch die Gegend von H. Hausers „Meine Farm am Mississippi“) in Sainte-Geneviève, ist ebenfalls vergeblich; stattdessen aber gibt es deutsche Namen und gute Bratwurst mit Sauerkraut und echtem Bier!
2004 mit Flug über den Nordpol gleich nach Kalifornien: von San Francisco lange Busfahrten durch das sonnige breite Binnental Nordkaliforniens zwischen goldbraunen Weinbergen und Weiden, dann Wälder bis Arcata, einer kleinen Universitätsstadt, recht still bis auf ein Dinner der guten Gesellschaft im feinen alten Hotel am Hauptplatz; es mutete sehr englisch an, und das so nahe an der wildromantischen Küstenlandschaft dieses Landesteils. – Weiter (leider nachts) bis Portland (Oregon), wo es eine Festparade lustiger, vor Gesundheit strotzender und (doch) elegant gekleideter StudentInnen auf einer schönen Allee gab, sowie ganz imposante moderne Gebäude. Die Autobahnstrecke durch die waldige Landschaft des Nordwestens nach Seattle ist natürlich leider nicht so schön wie andere Routen. In der Pension fand, wie noch öfters, am wohlgedeckten Frühstückstisch aus poliertem dunklen Holz eine eifrige Unterhaltung über die Wahlen im Herbst statt: immer hörte ich nur Anhänger der Demokraten, und dann haben doch die Republikaner gewonnen.
Hinsichtlich der Landschaft des amerikanischen und kanadischen (Nord)westens war mir ihre Leere schon in der superben Umgebung Vancouvers aufgefallen, die auch bewirkte, dass mir die riesigen Berge und Täler der Rocky Mountains hier „oben“ (zwischen Vancouver und Calgary) eher düster vorkamen; als wir uns Calgary näherten und eine dort wohnende Pensionistin (aus Deutschland eingewandert) von den Wanderungen erzählte, die sie jetzt mit ihren Freundinnen in die Berge unternehme, staunte ich über ihre Vertrautheit mit einer derartigen Gegend.
Ein auf dieser Busfahrt in Kanada neben mir sitzender Zehnjähriger, dem Europa und sogar „Austria“ Begriffe waren, munterte mich auf: all die Stunden fuhr er zu seinem geschiedenen Vater auf einen der vom Gericht erlaubten Besuche; ich merkte nach einiger Zeit, dass es ihm an Gesprächen mit männlichen Erwachsenen mangelte. (Auch bei Schülern hatte ich das bemerkt.) Als ich fürchtete, durch meine Unkenntnis gewisser elektronischer Spiele, die mein kleiner Reisegefährte mit hatte, sehr untüchtig zu wirken – er hatte schon mehrmals verzweifelt geseufzt –, erzählte ich ihm, wie ich beim Bundesheer Molotow-Cocktails werfen musste – voll schlechten Gewissens hinzufügend, was für eine Angstpartie das war.
Von Calgary nach Winnipeg flog ich, und besuchte am nächsten Morgen den Sonntagsgottesdienst in einer der beiden lutherischen Kirchen der angeblich zahlreichen Deutschen der Stadt, wo ein Pastor aus Deutschland amtierte. Später fand ich neben der einsamen Promenade am Red River (ja, so heißen dort Flüsse wirklich) nahe der katholischen Kirche von Saint Boniface eine Gedenktafel für die auch hier im 17. Jahrhundert wirkenden Jesuitenmissionare aus Frankreich. Das anschließende French Quarter sieht aber nichtssagend-modern aus. In der Umgebung befinden sich die Mestizensiedlungen der Assiniboine, die – katholisch und frankophon, entsprechend der hier wenig rassistischen Integrationspolitik der Franzosen im 17. und 18. Jahrhundert – den Anglokanadiern im 19. Jahrhundert Widerstand geleistet hatten. (Sie protestierten übrigens vor einigen Jahren auch – vergeblich − gegen die Übertragung des Rechts, die kanadische Verfassung zu ändern, vom britischen an das kanadische Parlament, da sie von ihren kanadischen „Landsleuten“ mehr für zu fürchten haben als von den Institutionen der früheren Kolonialmacht.) Im Hause des Métis-Politikers Riel verstand ich leider das Französisch (oder ist es jetzt eine eigene Sprache?) des fremdenführenden Jugendlichen fast gar nicht, konnte ihm aber nicht gut sagen, er möge doch Englisch sprechen, nachdem ich seine Frage, ob ich Französisch könne, bejaht hatte.
Ich hatte in Winnipeg ein Privatzimmer gebucht, und als ich mich im Taxi der einsamen Villa am Stadtrand und zugleich einem dunklen Waldrand näherte, dachte ich, gleich zu einem familiären Abendessen zu kommen. Aber das Haus war verschlossen, ein Zettel an der Tür gab mir eine Telefonnummer an, unter der man mir sagen würde, wo der Schlüssel versteckt sei. Zum Glück hatte ich dem Taxi gesagt, noch zu warten, und der Chauffeur konnte die Leute anrufen. So kann es einem auf solchen Reisen auch manchmal gehen! Ich saß dann allein mit einer Zigarre im verriegelten Klo, bis ich todmüde ins Bett wankte: solange ich nicht schlafen konnte, war es mir in dem alten Haus unheimlich. Lange allein zu reisen, greift das Gemüt an! (Am nächsten Morgen legte ich das Geld auf den Tisch und ließ mich vom selben Chauffeur wie verabredet in die Stadt fahren.)
Durch unschönes Weideland mit verstreuten Silos und Maschinenparks ging es in unspektakulärer, obwohl doch grenzüberschreitender Busfahrt wieder in die USA. Vor den Kontrollschuppen mitten in der Prärie gab uns der Fahrer genaue Tipps, wie wir uns anstellen sollten, um die Prozedur zu verkürzen: aber keiner verstand sie, und er murmelte ein paar verzweifelte Worte, als sich niemand daran hielt. Meine Befürchtung, mein Hin und Her zwischen den beiden Ländern würde zu Schwierigkeiten führen, war unbegründet. Der Beamte sagte sogar:„Welcome back to the United States!“
Die Nachbarstädte Minneapolis und St Paul, mit gutem Museum in elegant gewagtem Neubau, verbindet eine kühne Brücke hoch über den...Mississippi! Darauf Madison, wohl im Sinclair Lewis-Land, aber eine wirkliche Studentenstadt, in ihrer Kleinheit gut durchwanderbar, mit hübschen Bungalows unter Bäumen und guten preiswerten Imbissen in den Lokalen voll lachender, rücksichtsvoller StudentInnen. Sie gaben mir unbekannte Typen von Speiseeis zum Probieren. Die Leere des Nordwestens und der Tiefpunkt der Reise waren überwunden.
Weiter mit dem Bus nach Milwaukee, wo das deutsche Element sehr sichtbar wird: Bierlokale mit folkloristischen Schildern, ältliche Bürgerhäuser und dunkle Industriebauten an der Einmündung eines Flusses in den Michigan-See, und neben einer jener frühen, charaktervollen Eisenbrücken der USA verankert, unter Rauchfahnen im kühlen Wind, zwei zierliche Ausflugsdampfer: „Edelweiß“ I und II!
Dann Chicago! Kein Kriminellenzentrum mehr, im Gegenteil: große, solide Bauten, von den ersten Wolkenkratzern mit Jugendstil- und Dreißiger-Jahre-Dekor (von dem auch in den nächsten Städten bemerkenswerte Beispiele zu sehen sind) bis heute, manche in perspektivisch eindrucksvollen Gruppen; saubere Straßen, ruhiger Verkehr, die bekannte Hochbahn des „Loop“ gemütlich, mit freundlichen Auskünften; festliche grüne Anlagen am weiten Ufer – die Großen Seen! – und dort die ganz ausgezeichneten Museen.
Ebenfalls gute Museen in Detroit, zu der Zeit mit fast ruinösen Häusern bzw. Baustellen im Zentrum, ein höchst skurriles Zeugnis der amerikanischen Konjunkturtiefs, sowie in Toledo, auf dem Weg nach Cincinnati: der Name! Und am breiten Ohio! Tom Sawyer und Huckleberry Finn waren hier in der Nähe! Dann Cleveland mit seiner gelobten Konzerthalle (ein massiges Gebäude am Ende einer langen, breiten Allee), der Gemäldegalerie und einer großartigen Uferpartie am Zusammenfluss zweier, ja dreier kleiner Flüsse (beim Erie-See) mit einem alten, bizarren Brückenensemble, unter dem ganz langsam und vorsichtig, doch mit rauschenden Wirbeln des kräftig fließenden Wassers am Bug, ein mächtig hohes altertümliches Schiff daherkam.
Buffalo dagegen nichtssagend, aber bei den Niagarafällen! Diese sind tatsächlich ein Erlebnis (entgegen meiner Erwartung); imponierend auch, wie die Amerikaner hier Sicherheit mit unmittelbarem Erleben der wilden Natur zu vereinen wissen. Auf soliden Holzstegen hat man die Wasserstürze tatsächlich in greifbarer Nähe.
Im frankophonen Kanada dann Montreal wirklich voller Eleganz und Lebensfreude, großer Museen, moderner Architektur und alter Häuser mit Interieurs vorwiegend aus der französischen Belle-Epoque. – Über Trois-Rivières, d.h. nördlich des St. Lorenzstromes, durch französische Uferstädtchen und über eine große Brücke nach Quebec: die Pension schon recht französisch-kleinlich, die sehr ernst blickende Wirtin erklärt mir genau die Hausregeln; Gemäldegalerien und historisch-militärische Museen mit Erinnerungen an die französische Besiedlung und die britische Eroberung; außerhalb der Stadt die katholischen Kirchlein der Indianermissionen von Wendake, dem Village des Hurons, dem Huronendorf : zwischen unauffälligen Holzbauten steht eine kleine Kirche der französischen Provinz des 17. und 18. Jahrhunderts mit Gaben der französischen Könige unter ihren sakralen Gegenständen. (Die Huronen waren ja großenteils katholisch und Verbündete der Franzosen gegen England geworden, hatten allerdings gegen ihre Feinde, nämlich andere Irokesenstämme, und die Engländer im Siebenjährigen Krieg verloren. Im berühmten angloamerikanischen „Lederstrumpf“ werden sie denn auch als Schurken dargestellt, der edle „Mohikaner“ ist dafür auch „der letzte“: tatsächlich überstanden die Indianer die französische Herrschaft besser als die britische. Zu spät erkannten die Indianer, die sich mit den Engländern verbündet hatten und nicht christianisiert worden waren, dass England mit seinen viel zahlreicheren Siedlern weit gefährlicher war als Frankreich. Als England dann gegen seine eigenen Kolonisten kämpfte, verbündeten sich viele Indianer mit den Briten, deren Kaufleute weniger gefährlich für sie waren als die weißen Siedler, besonders, wenn diese unabhängig werden sollten; wieder aber war es zu spät.)
Meine Reise ging weiter nach Rimouski, mit einer richtig hausbacken-französischen Herberge am Südufer des großen St. Lorenz-Stroms. Es folgte eine längere Fahrt mit einem Regionalbus, Chauffeur und Passagiere sehr „europäisch“, für mich unauffällig in Statur und Kleidung. Durch grüne Landschaft und französische Küstendörfer fuhren wir bis Percé (so nach dem durchbrochenen Felsen im Meer vor dem Hafen genannt).
Frankreich hält dem amerikanischen Konsumverhalten hier glänzend stand. Das Hotel war ländlich-einfach, mit brummiger Bio-Wirtin und zwei stummen, sehr entspannten jungen Paaren, die gänzlich mit ihren Kleinkindern beschäftigt waren: auf dem Kanonenofen kochte ihr Essen unter dampfenden Socken, die wohl nach einer authentisch bäuerlichen Wanderung trocknen mussten; für meinen Mangel an Selbstversorger-Ethos dagegen wurde mein knurrender Magen bestraft. −Immerhin gab es am nächsten Morgen Frühstück, und danach bei Sonne und Wind einen Spaziergang zum felsigen Strand am Rand von Wiesenhügeln und (bei Ebbe) um den Felsen Percé auf dem Geröll zu seinen Füßen, mit ganz naher Brandung.
Erst sah ich noch ein älteres Ehepaar gegen den Wind ankämpfen (aus Frankreich, wie sich später herausstellte – wir sahen uns im Ort doch wieder), dann niemanden mehr; auf dem Rückweg kam mir dafür eine ganze Gruppe frankokanadischer Agrarstudenten entgegen, denen ich den Weg beschreiben konnte.
Weiter an der wilden, menschenleeren Küste der Halbinsel Gaspé nach Gaspé selbst; mein Quartier hier war tröstlich-komfortabel, so dass ich sofort eine einsame Wanderung an der Bucht voll kaltblauen Wassers (ähnlich Finnland) wagte, am bewaldeten hohen Ufer gegenüber kein Lebewesen (außer es beobachteten mich verborgene Rehe?); hier landeten die ersten Franzosen. Mein historisierendes Gedenken wurde von zwei hastig „walkenden“ jungen Frauen unterbrochen, die immerhin kurz und freundlich grüßten. – Wieder weiter im Regionalbus an der Nordküste der Halbinsel Gaspé, eine schöne Aussicht aufs Meer nach der anderen, auf die mich der liebenswürdige junge Chauffeur aufmerksam machte, der mich und mein Filmen schon von einer früheren Fahrt kannte.
Am Endpunkt in Rivière-du-Loup aber eine hässliche Szene, der französischen Provinz würdig: um 6 Uhr früh am nächsten Morgen das Hotel zu verlassen (wegen der frühen Bus-Abfahrt) gehe nicht, es stehe keiner so früh auf, und einen Schlüssel könne man mir nicht anvertrauen; erst als ich drohte, die Polizei um Beherbergung und Eintreiben der Vorauszahlung des Zimmers zu bitten, gab man nach.
So war ich erleichtert, in die mehr englisch geprägte Provinz Neubraunschweig zu kommen, durch immer belebteres hügeliges Wald-. Wiesen- und Ackerland mit relativ hübschen Städtchen bis Halifax, wo eine Zitadelle zu sehen ist, ein Museum, ein Park mit einem menschenfreundlich betexteten Kriegerdenkmal über schönen Back- und Sandsteinhäusern am Wasser... Die Küstenstraße nach Lunenburg ist dann geradezu malerisch, der Ort, von England mit deutschen Evangelischen gegen die Franzosen besiedelt, hat schöne Häuser, sorgfältig gebaut wie in Neuengland. In einem davon befand sich mein „Bed&Breakfast“ mit einer adretten, tüchtigen, dabei freundlichen – und darin schon sehr „amerikanischen“ – Wirtin.
Schließlich zu dem fast ebenso hübschen Yarmouth, dem Hafenstädtchen an der Südspitze einer Halbinsel, von dem man in Richtung USA „in See sticht“. Seine Häuser aus weißem Holz sah ich erst nach abendlicher Ankunft bei Mondlicht zwischen dunklem Laub leuchten, bevor ich zu dem englischen Gentleman in seinem distinguiert eingerichteten Bungalow einkehrte, in dem ich ein Zimmer gebucht hatte. (Er war aus England wegen der dortigen hohen Steuern ausgewandert, fühlte sich aber in Kanada isoliert; 2010 sah ich im Internet, dass die Besitzer gewechselt hatten: wie Bekannte von uns aus Stellenbosch in Südafrika war auch er offenbar nach England zurückgegangen…auch Kanada ist also teilweise noch nur vorübergehend „Heimat“.)
Der nächste Tag sah mich auf dem Schiff nach Portland (Maine), eine herrliche lange Meeresfahrt (bei gutem Wetter) mit sehr schönen bewaldeten Buchten und Inseln auf kanadischer wie amerikanischer Seite; das Publikum und die Aufenthaltsräume waren eleganter als etwa auf Fähren nach England: offenbar war dies kein Massenverkehrsmittel. Dementsprechend entspannt verlief auch die Einreise: Als ich von der Fähre mit dem Rucksack an Land ging, wünschte mir der „Grenzer“, der uns auf dem Kies des Strandes abfertigte, „Enjoy your walking – not all the way, I hope?“. Die „skandinavische“ Landschaft aus bewaldeten Bergen und Meeresbuchten setzte sich auf der Fahrt nach Camden fort, wo ich eine touristische Segelschiffsfahrt mit eindrucksvoller Arbeit der Mannschaft an den Segeln genoss, und ausgezeichnetes „scallops“-Essen in einem Hafenrestaurant.
Nach Boston ging ein ausgezeichneter Zug, dann wieder im Bus nach New York und Charlottesville in Virginia, mit dem vornehmen Monticello und Ash Lawn, dem Haus des Präsidenten und Sklavenbesitzers Jefferson. Auf dem Gelände der mindestens architektonisch (für ihren Klassizismus) berühmten Universität von Charlottesville durfte ich ganz frei in den Arkaden lustwandeln und, wie mir eine Studentin versicherte, sogar in die recht komfortablen und wenig aufgeräumten Studentenwohnzimmer blicken, wenn ihre Türen offen waren. Eine Buchhändlerin im Ort erwies sich als Kennerin Europas.
Durch die schönen Appalachenberge nach Bluefields, der ehemaligen Bergbaustadt, jetzt ziemlich still, wenn auch saniert; und wieder in den „Old South“ nach Lynchburg: der Name und ein pompöses Südstaaten-Denkmal sind abschreckend, aber ich sah es mir an; es war sehr warm und still zwischen den belaubten Villen hügelauf – hügelab. Die Leute aber, denen ich begegnete, wirkten bescheiden und schienen fremdes Interesse zu schätzen. Die Damen des Rektorats der Uni von Lynchburg hießen mich ohne weiteres in ihrem offenstehenden Büro willkommen und ließen mich nach geduldiger Wegbeschreibung trotz offizieller Terroristenangst alleine die in den Korridoren angebrachten Gemälde (der dreißiger Jahre) anschauen und auf dem Campus das kleine Museum und eine Freilichtaufführung der „Antigone“ besuchen.
In vielen Museen der USA ist übrigens das hilfreiche, höfliche und freundliche Personal eine Wohltat, während es bei uns ja eher zum Unerfreulichen eines Museumsbesuches zählt. In Portland z. B ging ich nochmals in den Oberstock der Gemäldegalerie, weil ich meinte, den „Maine“-Saal nicht gesehen zu haben: das hatte ich aber, doch waren es nicht Bilder, die Maine zeigten, sondern von Künstlern aus Maine; der Kustos, mit dem ich darüber in ein weiterführendes, herzliches Gespräch kam, sagte schließlich: „How fortunate that you came up again!“ −
In Alexandria bei Washington kann man sehr instruktiven Führungen in eleganten (klassizistischen) Häusern bzw. historisch eingerichteten Wirtshäusern machen; letztere waren recht unbequem, wie wohl auch in Europa damals; Beispiele davon, und gute, fachmännische und zugleich freundliche Führungen fehlen aber bei uns.
Ich fand „die Amerikaner“ weniger hektisch und großzügiger als uns Europäer; sie haben auch mehr Platz und verbrauchen mehr Energie als wir Europäer: die Sitze in den Bussen haben mehr Fußraum, der Abstand zwischen den Tischen der Restaurants ist größer, die Autobahnkurven und Auffahrten sind weiter, die Landschaftssegmente, Bergzüge, Wälder, umfangreicher – man kann einen ganzen Tag lang und mehr durch die gleiche Landschaft fahren; die Besiedlung ist dünner, wenn auch das Land nicht so leer wie Australien wirkt, auch nicht so arm an Zeichen menschlicher Tätigkeit und kulturhistorischen Assoziationen wie Neuseeland (was durchaus ein Thema der neuseeländischen Literatur ist), obwohl es, außer im Osten, nicht viel Anmut in der Bebauung gibt.
Im amerikanischen Nordwesten herrscht ähnliche Leere wie in der nördlichen Hälfte Schwedens: Im nördlichen Kanada bilden ähnlich schüttere Bäume große Wald- und Seeneinsamkeiten; weiter südlich, in den USA, sind die Bäume dagegen majestätisch.
Erstaunlich die zivilisatorische Leistung der Nordamerikaner: überall, auch in der größten Wildnis und sogar in der Wüste haben sie modernen Komfort und Verkehrsverbindungen geschaffen, standardisiert zwar, und oft kulturell unbefriedigend, aber doch von stärkender Verlässlichkeit. Die Angehörigen der Mittelschicht sind im alltäglichen Umgang vergleichsweise höflich und fair zu einander: „Sir“ hört man öfter als in England, und als mir einmal in einem Selbstbedienungs-Restaurant das Essen vom Tablett rutschte, bekam ich alles gratis noch einmal – denn wenn der Inhaber des Restaurants Personalkosten spart, so soll der Kunde keine Nachteile davon haben.
Auf Puerto Rico (wenn es hier genannt werden darf) war ich gerührt (bei längerer Einsamkeit ist man das ja leicht, d.h. man entspricht dann der Wirklichkeit wirklich) von der amerikanischen Großzügigkeit, die selbst hier ihre Ausläufer hatte: als ich eines Abends etwas deprimiert im Innenhof meines kleinen Hotels saß, sah ich einen Amerikaner sich eine Tasse Kaffee aus dem Automaten holen, von dem ich annahm, er sei nur fürs Frühstück; unsicher, ob der Mann sich vielleicht nur als Angestellter bedienen dürfe, bekam ich auf meine Frage, ob der Kaffee auch für mich inklusive sei, die Antwort: „Sure it´s free, sir, take as much as you want!“
Man konnte begreifen, warum Amerikaner ihren eigenen „way of life“ so gern haben. Nicht nur das Autofahren, auch andere Phänomene der modernen Zivilisation werden in Amerika besser gehandhabt und gemacht: die Wolkenkratzer sind wirklich kühn, die Moderne ist hier in so vielen qualitätsvollen Beispielen zu sehen, dass erst mit ihnen ein gerechtes Bild der Architektur zwischen 1880 und 1980 entsteht, nicht durch die kleinlichen Hochhäuser in Europa.
Der lange Gebrauch und die Pflege ohne Kriegszerstörung hat Geländern, Feuertreppen, Aufzügen und Drehtüren, Zugwagons, den Verkleidungen der Hausfassaden, dem Straßenbelag ein abgenutztes, aber original modernes Aussehen verliehen, geglättet und fast behäbig abgerundet, oder im eckigen Stil des Art-Déco erhalten. Die Breite der niedrigen Gehsteige allerdings, in hellem Beton und mit geplanten Spalten wie in Deutschland bei den alten Autobahnen, verursacht in verlassenen Straßen, an einem heißen Nachmittag selbst im Zentrum einer großen Stadt wie St Louis ein Gefühl der Verlassenheit, wenn nicht sogar der Bedrohung; auch können die starren hochaufgerichteten Flächen der massiven Wolkenkratzer dräuen, während außerhalb der „city“ mit ihren „corporate buildings“, Bürogebäuden, die weit auseinander stehenden Wohn-Bungalows und besonders die flachen, an der Highway verstreuten Gebäude von Werkstätten, Einkaufszentren und Motels mit ihren kindischen Reklamezeichen sonderbar irreal und wiederum vereinsamend wirken; hier ist dann auch das Abgenutzte schäbig, da es oft aus den sechziger Jahren stammt und also jene dürftige Moderne des Stils zeigt, die nur neu oder in teuren Materialien nicht den Eindruck von Nepp und Vernachlässigung hervorruft: der Kunststoffbelag des Bodens und der Möbel ist verfärbt und gewellt, die Vorhänge sind hässlich bedruckt und schmierig, die Air-condition blubbert und verströmt – oder ist es das Desinfektionsmittel? – einen abgestanden süßlichen Geruch. (Ich schreibe das hier so unverblümt, da ich von Susan Sontag einen umgekehrt entsprechenden Text über rückständige Beherbergung in Mitteleuropa gelesen habe.)
Auf späteren Reisen war auch zu bemerken, wie sich die soziale Lage in den USA verschlechtert hatte: die Busfahrer waren inzwischen barsch, die Fahrgäste ärmlich und, außer manchmal Studenten, nachlässig und aggressiv, auch und gerade Schwarze: nicht mehr ganz entschuldbar durch die frühere Unterdrückung kam es mir vor, wenn z. B eine Schwarze, während ich draußen aufpasste, dass unser Gepäck nicht wieder versehentlich vorzeitig ausgeladen wurde, meinen Sohn mit den Worten „This is a free country!“ von seinem Sitz vertrieb; oder wenn ein schwarzer Taxifahrer, der die Adresse meines Hotels nicht kannte, zu mir sagte, als ich sie auf meinem kleinen Stadtplan suchte: „Hurry up, you make me lose my time!“ – In Kanada dagegen waren Transport und Leute weiterhin gepflegt und sogar liebenswürdig; dort war auch das billige Essen noch halbwegs gesund, und man konnte dazu ein Bier trinken statt immer nur künstliche gesüßte „soft drinks“. Dabei gab es noch in den achtziger Jahren in amerikanischen Kleinstädten individuell geführte Schnellimbiss-Stuben, die verschiedene, selbstgemachte Snacks anboten ; sie mussten den Fast-food-Ketten weichen. Inzwischen gibt es aber in Großstädten der USA gutes Essen zu erschwinglichen Preisen: abgesehen von Küchen des Fernen Ostens fand ich z.B. in Boston schicke kleine Restaurants, gediegen modern eingerichtet, wo dezent gekleidete junge Kellnerinnen, vielleicht Studentinnen, ungezwungen und zugleich höflich preiswerte Gerichte einer Art „nouvelle cuisine“ servierten. Steckt dahinter ein gesellschaftlicher Wandel?
Die heiße Bitterkeit Iberoamerikas
1974 reiste ich, zunächst mit meiner Frau, in die Andenländer, um Material für ein Habilitationsprojekt (über das – geschriebene – Spanisch der Andenindianer) zu sammeln. Die peruanische Universitätsprofessorin, die mein Kontakt in Lima sein sollte, war unauffindbar. Als ich dem Pedell der berühmten San Marcos-Universität ihren Brief ans Institut in Wien zeigte, sagte er: „Suchen Sie sie doch mit der Polizei, wenn Sie wollen!“ – García Márquez hat nichts erfunden! Darauf versuchte ich, in den Schulen der Elendsviertel von La Paz, der bolivianischen Hauptstadt, Kontakt zu bekommen. Bei Jesuitennovizen, die Jugendliche in der abendlichen Kälte auf 3800 m Höhe unterrichteten, konnte ich Schüleraufsätze untersuchen. Die struppigen Burschen, die energischsten der Lumpensammler und bettelnden Kinder, die von 19 bis 23 Uhr den kalten Erdboden (um nicht zu sagen: die Schulbank) drückten, freuten sich über mein Gestotter auf Aymara und wollten genau wissen, wofür meine Untersuchung war (sie vermuteten wohl die CIA dahinter; meine Freunde von der Gesellschaft Jesu gestanden mir später, als ich die Uni aufgegeben hatte, mein Projekt für unnütz gehalten zu haben). Übrigens gab es in einigen Klassenzimmern Holzbänke, gestiftet von Caritas und Misereor. Einige Zimmer hatten auch Holztüren in den Öffnungen, sonst pfiff der eisige Andenwind herein, wie auch durch die glasfreien Fenster.
Hinauf in die Elendsviertel konnte man um 18 Uhr in einem Sammeltaxi fahren, gegen Mitternacht hinunter musste ich gehen (ich wohnte ja im Luxusviertel auf 3200 m): auf Schlaglöcher musste ich in der Finsternis mehr achten als auf Kriminelle: davon gab es in La Paz nur wenige, und man versicherte mir, ich sei bekannt und mir werde nichts geschehen.
Zunächst also Flug nach Bogotá, wo wir nach zwei Nächten von einem billigeren Hotel in ein luxuriöses umzogen, da die große Anzahl von Flohstichen eine Erkrankung befürchten ließen. – In den Museen der indianische Goldschatz und einigermaßen rohe religiöse Bilder, das niedrige Haus Bolívars mit Erinnerungsstücken und ein wenig klassizistische Eleganz des Mobiliars.
Im Bus weiter durch Kolumbien, nach grüner Hochebene kamen waldige Berge und Schluchten. Der Bus hielt einmal plötzlich vor einer Brücke und ein Mann stieg in die Tür, von wo er Drohungen ausstieß; keiner rührte sich, und er stieg wieder aus.
Hinab zum subtropischen Cali: ein schläfriger Soldat mit Karabiner saß in der weißen, hellerleuchteten Hotelvorhalle, aber wir wagten uns noch hinaus in die warme Luft zu einem Spaziergang über den Hauptplatz, mit altmodischen Laternen und hohen Palmen gegen den Nachthimmel. – Popayán wieder höher gelegen, eine Bergstadt mit „cuadras“ im Schachbrettmuster der Stadtgründungen des europäischen Barock, Wohnhausblöcke solider alter Häuser aus hellbraunem Stein an hochgemauerten Gehsteigen. Gegen Pasto stiegen zunehmend indianische Bergbewohner zu. Auf einem Bergrücken gab der Bus auf, wir warteten zwei Stunden in der Stille der plötzlich uns direkt umgebenden Natur auf den Ersatz, der immerhin von der nahen Hütte einer Mestizin telefonisch herbeigerufen werden konnte, einer Art Straßenwärterin, die auch Coca-Cola (in geschlossenen Flaschen) hatte; wir schauten auf die Nebelschleier über den subtropischen Bäumen der Bergflanken ringsherum. – Zum Grenzort Ipiales, der uns abends im Regen elend dünkte; Übernachtung in einem feuchten Zimmer, mehrere Passagiere unter einer einzigen Wolldecke zusammengedrängt, nach Reissuppe aus schmutzigen Tellern.
Nach Ekuador: grüne Berge und farbenfroh gekleidete Indianerinnen um Ibarra, bessere Straßen vor der relativ angenehmen Hauptstadt Quito, deren hübsche historische Bauten weiß in subtropischem Grün stehen; hier musste sich meine Frau einen Zahnabszess behandeln lassen: der Arzt wurde von einem zerlumpten Buben vom Golfplatz geholt, operierte dann aber ganz ordentlich. (In der Höhe, überhaupt auch bei stark veränderter Umwelt, also auf Reisen, schwellen latente Eiterherde zu schmerzhaftem Druck an, brechen gefährlich auf.)
Von Quito macht ein kleiner Zug eine landschaftlich eindrucksvolle Fahrt durch die Vegetationszonen von den Bergeshöhen durch „Wildwest“-Städtchen mit „Colorado“-Indianern an die dampfende Küste nach Guayaquil mit seinen Elendsvierteln am Wasser. Ein Taxi brachte uns durch Bananenstauden zu einem Indianerdorf, das wir aber nicht betreten durften; es lag auf der anderen Seite einer schmalen Schlucht, und wir sahen den in der Entfernung kleinen Menschenfiguren zu, wie sie zwischen ihren Hütten herumstiegen, bis einige Indianer in kurzen gelben Ponchos zu uns kamen: sie lächelten uns zu, aber nach einer kurzen leisen Unterhaltung mit ihnen sagte uns der Taxichauffeur, wir müssten nun wegfahren.
Dann Peru: an der Grenze zwischen den eher schmutzigen Küstenorten Machala (von dem ich aber 2009 subtropisch bunte Bilder im Internet sah) und Tumbes zu Fuß zur Kontrolle des Gepäcks an langen Tischen, auf denen der gesamte Kofferinhalt ausgebreitet werden musste. Der peruanische Bus führte uns die in ihrer Ödnis beeindruckende Sanddünen-Steilküste entlang, über dem nebelgrauen Pazifischen Ozean; im protzigen Lima konnte meine Frau bei einem Kinobesuch die Hand eines Taschendiebes abwehren. Am Bahnhof von Lima verkaufte uns die schicke junge Dame am Schalter – die erst einmal ihre Nägel fertig lackierte – Bahnkarten nach Cuzco, obwohl der Zug wegen eines Erdrutsches schon seit Tagen nicht mehr fuhr. Das Landesinnere erschloss sich daher in einer abenteuerlichen Busfahrt von 34 Stunden nach Cuzco durch riesig-weite Berglandschaften; in den engsten Kurven der Schotterstraße blieb der Bus stehen, alle mussten aussteigen, bis er im Kies über dem Abgrund wieder vorwärts fahren konnte; dennoch, oder gerade deshalb, blieb er bei den kleinen Marienaltären an besonders gefährlichen Stellen stehen, damit der Beifahrer hinausspringen und eine kleine Spende deponieren konnte. – Als wir Männer in der Nacht zwecks Notdurftverrichtung am Straßenrand vor der Finsternis standen – die Frauen durften sich in die Dunkelheit mitten auf der Straße hocken – hörte ich gar nichts, und fragte meinen Nebenmann; seine Antwort: „Zu tief!“
Das prächtige Cuzco ganz aus düsterem Stein; nach dem Ausflug nach Macchu Picchu ging es in einem relativ komfortablen Zug über die Steppen der Hochebene mit weidenden Lamas nach Puno.
Am nächsten Morgen wachte ich wie halbseitig gelähmt auf: die Höhenkrankheit, wie man meiner Frau unten im Hotel sagte. Ich bekam Kamillentee und erholte mich während eines Schilfbootausflugs auf dem tiefblauen Titicacasee zu den Indios, die auf Schilfinseln bzw. im Schlamm hausen. Eine ganz weiße Argentinierin, die Tonbandaufnahmen von den dortigen Indiosprachen machen wollte, hielt dem uns stakenden Bootsmann das Mikrofon unter die Nase, aber er sagte nichts
Tags darauf entfiel der Bus, für den man uns schon Karten verkauft hatte; also fuhren wir verspätet im Sammeltaxi durch verfallene Orte und über braune Hochebenen, immerhin mit einer Anzahl von Eukalyptusbäumen, nach La Paz. Als wir am bolivianischen Grenzübergang ankamen, war diese schon zu: sie schloss um 18 Uhr und in Bolivien war es eine Stunde später als in Peru. Wir Passagiere sammelten das Bestechungsgeld für den Grenzposten. Den peruanischen Ausreisestempel hatten wir nicht erhalten, weil der Grenzbeamte, wie uns die Einwohner des Grenzdorfes Rio Desaguadero sagten, irgendwo betrunken lag. Als ich die Angelegenheit in der peruanischen Botschaft in La Paz regeln wollte, bedeutete mir der peruanische Beamte in aller Freundschaft, ich möge die Botschaft, also peruanisches Hoheitsgebiet, schleunigst verlassen, da ich sonst wegen illegaler Ausreise verhaftet werden müsse.
Meine Frau flog wegen der Kinder, die wir in ihrer Mutter Obhut gelassen hatten, früher (über Bogotá) nach Wien zurück, als es mir meine Arbeit erlaubte. Ich blieb wehmütig zurück und wurde bei den Besuchen in den Schulen der Elendsviertel davon überzeugt, man müsse sich für die „Dritte Welt“ engagieren (und von der eigenen mangelnden Fähigkeit, ein guter Helfer vor Ort zu sein).
Nach einem kleineren Putschversuch wurde der Ausnahmezustand verhängt; das Gefühl, nicht mehr aus diesem Lande oder Kontinent herauskommen zu können, verstärkte sich, als die Reservierung für den Rückflug erst bei der dritten Vorsprache im Reisebüro nicht wieder gelöscht war; dennoch sollte man am Morgen des Abflugs nochmals anrufen. Als ich das tat, schien der Flughafenangestellte mich nicht zu verstehen, weswegen ich meine Frage auf Englisch wiederholte; darauf bellte er (auf Spanisch): „Warum sprechen Sie jetzt Englisch?“ – Ich: „Weil ich mich offenbar auf Spanisch nicht richtig ausgedrückt habe.“ – Er: „Aber Sie können Spanisch, sprechen Sie Spanisch!“ Ich wiederholte meine Frage auf Spanisch, und er bestätigte, dass der Flug stattfinde. In Lateinamerika ließen die US-Flugkonzerne Flugzeuge fliegen, die in den USA nicht mehr landen dürfen. Erst von Bogotá nach Miami gab es also ein „sicheres“ Flugzeug. Vorher aber wäre ich beim Umsteigen in Lima fast festgehalten worden, da ich irrtümlich die Transitzone im Flughafen verließ und mir bei der „Wiedereinreise“ ja der peruanische Ausreisestempel fehlte. Nur durch einen Stoß an die Glastür und Galopp zur Einstiegtür erreichte ich das Flugzeug. – Und dann musste ich in Bogotá mit Hilfe meines Regenschirms einen Dieb abwehren, der mich auf dem Hauptplatz während der Vereidigungszeremonie des neuen Präsidenten bestehlen wollte. Meine Schuld, wenn ich mir die Parade in historischen Uniformen ansehen wollte.
In jenen letzten Tagen der Reise traute ich mich übrigens, etwas gewagter und besser zu speisen: waren es bis dahin fast nur Tee mit Zucker und trockener Toast oder, wenn erhältlich, heiße Hühnerreissuppe gewesen, so aß ich jetzt ein gutes Fleischgericht mit Süßkartoffeln und gebratenen Bananen und probierte sämtliche vorhandenen Fruchtsäfte.
Die Indios in den Autobussen der Andenländer sprachen fast nie, ihre berühmte Musik hörte ich dort nur in einem Palacio del Folclore und als dissonantes Pfeifen und Trommeln von Betrunkenen bei einem Dorffest. (Die für Export und städtischen Konsum arrangierte Musik der andinen Indianer war mir schon seit den fünfziger Jahren ans Herz gewachsen, als sie ein Freund meiner Mutter auf Wachsplatten nach Berlin brachte, besonders der „Sonnengesang“.)
Die durchschnittlichen Indios waren wohl schon unter ihren „eigenen“ Inkas unterdrückt, jedenfalls scheinen sie seit der spanischen Eroberung „kopflos“. In der Stadt einen Indio nach dem Weg zu fragen, erwies sich, mindestens damals, als zwecklos – er oder sie erschrak nur; lediglich die Soldaten, die relativ gut genährt und uniformiert mit dem Gewehr in der Hand an den Straßenkreuzungen standen, kannten Straßennamen. Soldaten kontrollierten auch die Überlandstraßen durch Sperren ca. alle hundert Kilometer; in der Einöde kamen sie aus ihren einsamen Verschanzungen, die natürlich leicht von Revolutionären überfallen werden konnten – nur entzündete das keine allgemeinen Aufstände, wie die anarchistischen Anhänger der Fokolar-Theorie hofften. In Peru mussten wir dabei alle aussteigen, und ein Soldat fuhr mit einem Bleistift unsere Namen auf der Passagierliste nach, um sie auf sein darunter liegendes Blatt zu kopieren.
Die Oberschicht dieser Länder „kompensiert“ ihre Kollaboration mit ausländischen Konzernen, ihre Verachtung der Indios und ihre Vorliebe für „cool jazz“ mit Anti-Gringoismus. Unter den Vertretern der relativ kleinen Mittelschicht, denen ich begegnete, fühlte ich mich vereinsamt, da sie, außer den sozial engagierten Kirchenleuten, sehr borniert waren, – kein Wunder, wie konnten sie sonst auch das Elend in ihrem Land aushalten. Mich hätte ja, abgesehen von allem Mitleid, schon in meinem Sinn für Ordnung und Ästhetik die Tatsache gestört, etwa auf dem Weg zum Flugplatz ein Elendsviertel durchqueren zu müssen.
Für den Rückflug war ein Zwischenaufenthalt auf den Bahamas vorgesehen: flaches Buschland, in der kleinen Hauptstadt eine bunte vielrassige Menschenmenge in den hellen, mit Reklamen überladenen Straßen, vor dem cremefarbenen Gouverneurshaus ein schwarzer Polizist in weißer Uniform und Tropenhelm. – In Miami hatte ich den Tag auf den Bahamas auf zwei Tage verlängert. Das Umbuchen des Fluges klappte so schnell, dass ich nach all den Wochen in Südamerika gleich nochmals anrief, um mir den neuen Flug bestätigen zu lassen. In Luxemburg erfragte ich die Zugverbindung nach Berlin ebenfalls gleich zweimal an verschiedenen Schaltern. – Welche Erleichterung, dann bequem durch grüne Wäldchen Richtung Elternhaus zu rollen!
Nach dem vielen Elend Südamerikas aber erschienen mir die Reklamen in den Glanzpapier-Illustrierten, die ich im Flugzeug nach Europa sah, wie aus einer anderen Welt, unseren kleinen, gefährdeten Teilen des Erdballs, wo wir sündhaft prassen.
Im Sommer 1985 nochmals Südamerika. Diesmal waren auch die beiden Kinder mit, und die Reise hatten wir viel komfortabler gestaltet, besonders in Brasilien, wo wir luxuriöse Flüge (zweimal bekamen wir Cointreau und eine Zigarre, zur freudigen Bewunderung der Kinder) zu 5 Städten gebucht hatten: Manaus (mit dem bekannten Opernplatz voll portugiesischer Pflastermosaiken „im Dschungel“, und einer am Vorabend an einer dunklen Uferstelle gebuchten Bootsfahrt auf dem Amazonas, in dem mein Sohn und ich kurz schwammen: es gab keine Piranhas im näheren Umkreis); in Recife – barock und arm, die Mauern oft schwarzgrün von der Feuchtigkeit – besuchten wir die Familie von Pater de Freitas, die vom politischen Engagement des (in Salzburg) exilierten Mitarbeiters von Paulo Freire nicht begeistert war; und suchten vergeblich (obwohl wir verabredet waren) die Leiterin eines vom „Entwicklungshilfeklub“ Wien mitfinanzierten Projekts beim Nachfolger des sozial engagierten Erzbischofs Dom Helder Câmara. (Als ich, damals Assistent an der Romanistik in Wien, bei einem dortigen Lateinamerika-Fest die Vorbereitung zu diesem Besuch erwähnte, lachten mich einige mambo-tanzende österreichische Studentinnen aus: wisse ich denn nicht, dass ich die herzlichen Südamerikaner dort ja alle ohne pedantische Verabredung treffen könne?)
Dann in Salvador (Bahia) vornehmeres tropisches Milieu, schöne alte iberische Häuser, meist mit schweren Möbeln aus dunklem Holz in weiß getünchten Zimmern, wie auch im spanischen Lateinamerika und in den portugiesischen Häusern in Indien – dort mit feinen indischen Einlegearbeiten. (Auch manche der hübschen holländischen Landhäuser Südafrikas sind ähnlich eingerichtet, und sogar die reichen Privatvillen in China). Unser Hotel ist ein solches Haus, mit weißen Veranden; der brasilianische Kaffee wird von „afrikanischem“ Personal serviert, großen humorvollen Frauen in weiten weißen Kleidern und ebensolchen Hauben. Als unser Zimmermädchen hört, wir seien aus Wien, dreht es sich summend im Zimmer zu einem imaginären Walzer. Unsere Kinder freuen sich über die netten Wärter in der Gemäldegalerie, denen ich später schreibe. Aber in dem Klima leidet unsere Tochter stark unter Hautallergie. Auch nachts ist es warm, als wir zum Denkmal für Stefan Zweig an der romantisch beleuchteten Strandpromenade gehen.
Dann Rio! Auch hier schöne spätbarocke Kirchen, und Ausflug zu einer Insel in der Bucht von Rio: die Schiffsfahrt sensationell schön, besonders die abendliche Rückfahrt im Sonnenuntergang! Auf der Insel im Sammeltaxi unterwegs, meine Frau verbindet einem Mitfahrenden den blutenden Fuß; der Mann bedankt sich mit „Obrigado, minha gente!“, als er aussteigt. (Wir hatten immer ein Erste-Hilfe-Päckchen mit. Schon in Afrika hatte meine Frau den Fuß eines Buben verbunden, der auf einem riesigen Platz, wo die Sammeltaxis abfuhren, unter einem Auto Reparaturarbeiten versuchte; und meine Frau und ich behandelten später in einem Park in Kalkutta die aufgeschlagene Zehe eines kleinen Mädchens, das gleich darauf mit ihrer kleinen Freundin wiederkam, die ebenfalls einen wunden Fuß hatte.)
São Paulo etwas kühler, gute moderne Gemäldegalerie in einem Park mit flammendem Jacarandabaum; auf großzügigen Schnellstraßen durch die hässliche, sehr moderne Stadt; wie in Lissabon noch 1973, hier noch jetzt und viel größer, Armenviertel aus elenden Hütten am Stadtrand. − Zugfahrt durch die zunehmend tropische Landschaft hinunter an die Küste zum Hafen Santos und zurück.
Fahrt in bequemen Bussen durch das kühlere Hochland Südbrasiliens, grün bepflanzte und gelbliche Bodenwellen mit freundlichen Dörfern, ins moderne, klimatisch angenehme Curitiba, Unterhaltung mit deutschsprachigen Einwohnern (Mate trinkend), die hier zahlreich und offenbar wohlhabend sind. Wir hören von der Erzherzogin-Kaiserin Leopoldine.
Durch das flache Weideland Uruguays nach Montevideo: ein kleines und verschlafenes Mailand. Müsste man ins Exil, wäre ein Aufenthalt hier gut vorstellbar. Nationalfeiertag mit Parade in Uniformen aus der Zeit der Befreiungskriege (gegen Spanien, um 1820), die Volksmenge feiert das Ende der Rechtsdiktatur, singt begeistert die Nationalhymne; wir besuchen ein Büro der neu zugelassenen KP: ein Mann dort sagt, jetzt, wo keine unmittelbare Gefahr von der Regierung mehr drohe, werde wohl wieder der alte Schlendrian bei ihnen einkehren.
Im Tragflügelboot über die hellbraunen Wasser des breiten Rio de la Plata – beiderseits flache Ufer – nach Buenos Aires: größer und moderner als Mailand; ins malerischen Boca-Viertel (das noch nicht so touristisch ist wie 21 Jahre später bei meinem zweiten Besuch) und zu den üppigen Grabdenkmälern im Recoleto-Friedhof. – Die Leute sprechen ihr Spanisch mit italienischer Intonation und begleiten es mit süditalienischen Gesten.
Begegnung mit einem Argentinier österreichischer Abstammung, dessen Hilfsprojekt für Indianer in der Provinz Misiones – der Name ist eine Erinnerung an den „Jesuitenstaat“ – von einer katholischen Gemeinde in Linz gefördert wird. Durch ihn Einladung in eine Villa im schicken Vorort San Isidro: dessen parkähnliches, früher sumpfiges Ambiente wirkte aber etwas öde, trotz einiger Wasserläufe mit Booten, das Grün merkwürdig dünn: war es naturbelassen? Einladung auch ins Landhaus eines Großgrundbesitzers, luxuriöse Gastlichkeit; eine junge Dame erzählt, wie sie noch vor einiger Zeit bei einem Angriff der Stadtguerrilla auf dem Boden kriechend ihren Schmuck aus einem Zimmer holte, in das schon die Kugeln einschlugen.
Zugfahrt nach Rosario, Abendspaziergang zum großen Fluss Paraná! Bei Regen am nächsten Tag zur ganz interessanten Gemäldegalerie, in der uns ein Kurator vom kulturellen Leben in der Provinzstadt erzählt, das lebhafter sei, als man dächte.
Darauf wirklich ins Landesinnere: mit dem Zug (dem Rest des „Estrella del Norte“, des „Nordsterns“, der früher bis La Paz fuhr) durch endloses, trostloses Buschland (weiter nördlich der Chaco, berüchtigt durch den Krieg der dreißiger Jahre zwischen Bolivien und Paraguay, d.h. Shell und Standard Oil, die dort das Erdöl ausbeuten wollten), ins Hügelland nach Tucumán, wo wir freundliche Verwandte argentinischer Freunde (in Wien) besuchten; und nach Jujuy in den Bergen, wo wir mit Nonnen aus Tirol und ihren argentinischen Mitarbeitern einen Abend verbracht: wie immer erschien es mir (wohl unrichtig für die Betreffenden) traurig, so lange so weit weg von der Heimat und von den Zentren der Welt zu sein, besonders im isolierenden Gebirge, noch dazu in der Nähe der düsteren bolivianischen Anden; umso mehr bewunderte ich die gute Laune der Schwestern. Dann ging es auch schon in die noch von der ersten Reise gefürchteten Anden: zunächst in einem noch ganz akzeptablen Bus über das hübsche barocke Salta an verschiedenfarbig gestreiften Felswänden vorbei – am Straßenrand wälzte sich ein Esel oder Maultier in Kolik oder im Sterben! – zur bolivianische Grenze hinauf. Übernachtung im trostlosen La Quiaca auf 4000 m Höhe bei ziemlicher Kälte. Am nächsten Morgen im Taxi über eine vereiste Straße an die argentinische Grenzstelle, wo der Beamte mir die Pässe nur gegen ein Bestechungsgeld stempelte, das ich auf 5 Dollar beschränkte, indem ich vorgab, mehr hätte ich nicht dabei.
Der Zug nach La Paz sollte gegen 9 Uhr vormittags abfahren, kam aber erst um 4 Uhr nachmittags. Alle warteten im Freien, wo es gegen Mittag wärmer wurde; es gab ein Reisgericht in einem kahlen Restaurant, aber meine Frau war von der Höhenkrankheit schlecht – Abhilfe kam durch unsere Kinder: diese, ganz fidel, hatten den Indios beim Sammeln von Brennmaterial geholfen; als die Feuerchen brannten, kochten die Indios Mate und gaben auch uns davon; meine Frau erholte sich, und wir konnten schließlich den Zug besteigen, mit Einheimischen um Plätze kämpfend: ein Großteil der oft schon den zweiten Tag wartenden Marktfrauen, energische Mestizinnen, war von der Polizei zurückgedrängt worden – zuerst appellierten die Polizisten an das Verständnis der Übernächtigten, dass Touristen als Devisenbringer Vorrang haben müssten, aber wir Touristen (insgesamt nur ca. zehn) waren ja nicht der Grund für die Überfüllung; die Abgewiesenen wollten also nicht weichen und wurden mit Schlagstöcken zurückgetrieben. (Ich riet einem Polizisten, dem wir einen Touristenzuschlag von umgerechnet ca. 10 Schilling auf den Fahrpreis bis La Paz von ca. 70 Schilling gegen Quittung entrichten mussten, die Bahn möge den Fahrpreis für Ausländer um das Fünffache erhöhen und einen komfortablen Wagon für sie zusätzlich anschaffen.) – Bei dem Versuch, ein verklemmtes Fenster zu schließen, bekam ich das plötzlich heruntersausende Schiebefenster hart auf die Hand. Bald wurde es dunkel, die Kälte nahm zu, aber die Temperatur stieg dann etwas, weil sich die Passagiere ohne Sitzplatz mehr und mehr auf uns Sitzenden abstützten, und wir so von ihren Ponchos zusätzlich gewärmt wurden, dabei allerdings auch den Gestank in Kauf nehmen mussten, den die Kleider der meisten Indios ausdünsteten: besonders die Frauen machen ja oft direkt in ihre Röcke, von denen sie mehrere übereinander tragen.
Am nächsten Tag blickten wir auf die gleiche leere Steppe, an deren Rand sich bedrohliche Berghäupter erheben. Nach ein paar Stunden hielt der Zug auf offener Strecke: wir befanden uns nun in der Provinz Oruro, und in dieser herrschte Generalstreik, der Zug blieb stehen; als Kompromiss wurde er geteilt, alles stieg aus, nur der vordere Teil sollte weiterfahren. Alles wälzte sich nach vorne, als es plötzlich hieß, der hintere Teil werde über eine Umleitung die Reise vollenden – wir stiegen wieder aus, und ich wollte gerade meinem Sohn vom Hinterausgang der vorderen Zughälfte herunterhelfen, als sich diese doch in Bewegung setzte! Nach einem kurzen Spurt (alles auf ca. 3500 m Höhe) konnte ich zu meinem Sohn hinaufspringen, worauf der Zug wieder anhielt; er sollte dann aber doch weiterfahren, und wir fanden glücklicherweise gleich neue Plätze, auch für meine Frau und Tochter, die uns schon hatten entschwinden sehen.
Gegen Ende dieses Tages erreichten wir den 3800 m hohen Rand des Kessels, in dem La Paz liegt. Im Abendlicht fuhr der Zug, zwanzig Stunden nach der Planankunft, in Kehren die rötlichen Hänge hinunter, begleitet von verstreut stehenden Eukalyptusbäumen und Pappeln. Hier war ich vor 11 Jahren in den Elendsvierteln gewandert! Unser Sohn, der mich noch ein paar Tage vorher gefragt hatte, „wo denn das Abenteuer bliebe“, zwinkerte jetzt vor Nervosität dauernd; er hörte damit auf, als er, wie ich zur selben Zeit, in La Paz höhenkrank wurde. Im Gegensatz zu meiner Frau – die inzwischen wohlauf war – konnten wir uns im Hotel ausruhen; unsere Tochter hatte gar nichts abgekriegt.
Am nächsten Tag wechselten wir Dollars, trugen die bolivianischen Hunderttausende in einem Köfferchen aufs Zimmer, und die Kinder vergnügten sich beim Sortieren der Geldscheinmassen. Wir warteten anderthalb Stunden vergeblich auf eine Familie, die wir am Bahnhof kennen gelernt hatten, bekamen aber eine gute Gemüsesuppe in dem Restaurant, das sie uns empfohlen hatten.
Am Abend vor der Weiterreise (mit dem Bus nach Peru) teilte uns die Hotelleitung mit, dass die Busgesellschaft die Abfahrt um drei Stunden auf 5 Uhr früh vorverlegt habe, da man schon über der Grenze sein wolle, falls das Militär im Morgengrauen putsche: dies sei nämlich zu befürchten, falls das Parlament in seiner Nachtsitzung nicht den Kandidaten der Armee wähle, der bei den Präsidentenwahlen vom Volk nur ungefähr so viele Stimmen erhalten habe wie sein Rivale. Wir passierten also die Grenze früh am nächsten Morgen, worauf die Amerikaner ihren bolivianischen Generälen den Putsch untersagten.
Nach luxuriöser Fahrt mit einem Katamaran über den Titicacasee-See kamen wir wohlbehalten in Puno an, von wo wir einen Flug nach Cuzco nahmen; dort Übernachtung in einem alten, kalten Palasthotel, dessen Nachtwächter neben der schweren Eingangstür im Hof schlief und uns zu spät weckte; aber wir erreichten den Zug zur Talstation unter dem Macchu Picchu doch noch: diesmal mit den staunenden Kindern – wie der kleine Zug hinaufreversierte!
Flug nach Lima, inzwischen eine gefährliche Stadt: ich ging zur Kirche S. Francisco ohne Kamera, Touristenkleidung trugen wir ohnehin nie. Den Kindern aber gefiel das altertümliche hohe Hotelzimmer mit dem großen Bad und seinen riesigen versilberten Wasserhähnen. – Wir sahen uns vom Taxi aus die reichen Villenviertel an (die sich überall in „diesen Gegenden der Welt“ ähneln, schmucke Bungalows in subtropischem Grün, z.T. Art-Déco, in Neu-Delhi z. B ganz in großen Gärten abgeschirmt und vereinsamt in schwelender Hitze, hier in düsterem, kaltem Nebel). Die österreichische Vertretung mussten wir auch hier nicht aufsuchen.
Flug in das grünere Ekuador zu Verwandten von Freunden im vergleichsweise nach wie vor schmucken Quito: Wir wurden sehr angenehm in einer Privatpension untergebracht und besuchten sogar eine stadtbekannte Konditorei, nachdem die Ärztin in der Familie eine Übelkeit unseres Sohnes behoben hatte; sie arbeitete viel in Armenvierteln und bewies die Wirklichkeit des tüchtigen modernen Frauentyps, der im neuen südamerikanischen Film eine Heldinnenrolle spielt. Und Flug nach Bogotá, wo uns der Hotelier noch abschließend bei der Hotelrechnung betrog, bevor wir nach Europa zurückflogen.
In Mexiko war auf einer späteren Reise (allein) meine erste Station (von St. Louis, USA) Chihuahua; dort vom Flugplatz mit Taxi und sinkendem Herzen durch braunes Ödland in das Nest von Städtchen (inzwischen eine Hochburg der mexikanischen Mafia). Im Hotel war das reserviertes Ticket für den Panoramazug nach Los Mochis für mich noch nicht da, aber im Café gegen 5 Uhr saß ich inmitten einer Ansammlung eleganter mittelalterlicher Damen norditalienischen Aussehens, die bei Kaffee und (manchmal) Kuchen lebhaft, aber nicht zu laut, miteinander plauderten, immer neu Ankommende umarmend begrüßten – wie in Europa, dachte ich erfreut (obwohl mir nicht einfiel, wo ich das in Europa schon gesehen hätte; es war wohl eher nur anders als in den USA, und vertrauter).
Am nächsten Tag in einem mäßig bequemen kleinen Zug wirklich nach Los Mochis an die Küste hinunter: die Landschaft in den zunehmend tropischen Vegetationsstufen nicht ganz so eindrucksvoll wie auf der Strecke Quito - Guayaquil, da sie insgesamt trockener ist; ein Kurzaufenthalt zwecks Sicht auf den „Grand Canyon“ Mexikos, die Barranca, war vernebelt; das wurde von den freundlichen, höflichen mexikanischen Passagieren so lebhaft bedauert, dass sich mein Unmut gar nicht recht bilden wollte.
In San Miguel de Allende nahm mich eine Familie auf, die ich in Europa kennen gelernt hatte. Alle waren sehr freundlich und ich teilte mit ihnen ein paar Tage das Leben einer Mittelschichtfamilie in einer Kleinstadt: gute, leichte Mahlzeiten, interessante Gespräche über mexikanische Politmythen, Verwandtenbesuche; Muße untertags – die Familie arbeitete – mit Lektüre der Bücher im Haus sowie Besichtigung des idyllischen Städtchens; ein Abend mit der Familie in einem Restaurant im Freien (zu dem ich vergeblich versuchte, sie einzuladen; zum Glück hatten die Augarten-Kleinigkeiten, als Geschenke gedacht, die Reise gut überstanden). Ich schlief in einem Zimmer im schon beschriebenen ibero-tropischen Stil (wobei S. Miguel in der subtropischen Zone liegt): weiß gekalkte Wände, dunkle, gefirnisste Möbel aus schwerem Holz (möglichst termitensicher!).
Dann nach Querétaro: Maximilian! Wenn man bedenkt, welchen Einfluss die USA nach dem Sieg von Juárez gewannen, und wie im Vergleich dazu der Einfluss Frankreichs bzw. gar Österreichs sich ausgewirkt hätte...und zur Hauptstadt Mexiko; als der Bus über besonders hübsche Hügel hinweg schaukelte, nahm ich doch die Landschaft mit meiner Filmkamera auf, obwohl ich fürchtete, von dem neben mir sitzenden jungen Mann in schwarzer Lederjacke und mit Pomade im Haar gleich beim Aussteigen beraubt zu werden. (Meine Freunde hatten mich vor dem chaotischen Busbahnhof der Hauptstadt gewarnt.) Auf einmal sagte der Jüngling ganz sanft zu mir: „Kommen Sie auf Ihrer Reise auch nach Morelos? Dort müssen Sie dann filmen, das ist noch schöner, meine Heimat!“
Auch in der Stadt Mexiko passierte mir nichts. Die Taxis waren klein und schnell, die Fahrer freundlich und korrekt. Die Luft war allerdings so schlecht, dass ich am zweiten Tag einen Reizhusten bekam, der erst in Miami wieder aufhörte; und auf 2200 m Seehöhe war es recht kühl, in einem wegen seines Belle-Epoque-Stils bekannten Kaffeehaus sogar kalt (und laut, aufgetakelte „gute“ Gesellschaft und zu leicht bekleidete Touristinnen). Aber es gab guten Milchkaffee im ruhigen Innenhof des Hotels – ein Kolonialbau (rot gestrichen, wie sonst nur in Chile häufig)…und lebhafte politische Gespräche mit Polizisten an Museumstoren und innen mit Museumswärtern.
Zwar war ich (in meiner ursprünglichen Sympathie für dieses Land und andere der „Dritten Welt“) gerührt über die Großartigkeit des Nationalpalastes und seines Freskenzyklus, aber bei näherem Hinsehen schienen die Werke von Rivera und „Genossen“ doch sehr grob und inhaltlich einseitig – gewissermaßen die Kraftmeierei von Salonbolschewisten; und die lange abweisende Front des Nationalpalastes kam mir ähnlich düster wie die Menschenopfer-Tempel der Azteken mit ihren verzerrt blickenden Skulpturen.
Im hübschen Chapultepec, wo die nunmehr beliebte „Carlota“ mit Maximilian residierte, hörte ich keine der mit ihr in Verbindung gebrachten, wirklich sehr melodischen Mariachis, wohl aber im sonderbaren Wallfahrtsort Guadelupe: eine verlassene ruinöse Kirche neben einer riesig-öden modernen. In Cuernavaca wollte ich auch jenes Institut für kritische Entwicklungshilfe besuchen, von dem Leo Gabriel junior in Wien erzählt hatte, der Wirkungsstätte von Ivan Illich. Aber der Pater, an den ich nach einigem Hin und Her gewiesen wurde, schien von alledem nichts zu wissen; er war untypisch eisig, und die Szene erinnerte mich an die Universität von Lima. Hilflos wartete ich anschließend, dass ein heftiger Regen aufhörte und das Wasser von den ohnehin hohen, wuchtigen Gehsteigen abfloss.
Eine weitere Reise nach Iberoamerika galt den vergleichsweise sehr komfortablen Ländern Chile, Argentinien und Uruguay (Winter 2006, also im dortigen Sommer). Langer Flug über São Paulo und über die südlichen Anden, die braun und weiß unter Schnee liegen, außer einigen wilden Spitzen und Massiven wirken sie eher flach; dann kurz grüne Ebene, und schon Landung in Santiago (de Chile). Im Jugendstil-Viertel dreistöckige Häuser aus Sandstein (solche kleinen „Belle-Epoque“-Viertel findet man auch in Buenos Aires), eines von ihnen ist mein Hotel: alt, billig, gemütlich und gepflegt mit gutgewachster Holztäfelung und freundlichen, alles genau erledigenden Angestellten.
Diese Effizienz fand ich überall in Chile, im Gegensatz zum übrigen Lateinamerika: fast alle Buskarten für meine Fahrten im Land konnte ich inklusive Platzreservierung in einem Büro kaufen (wo mir ein Mann auf meine Begeisterung freundlich antwortete „Pero puede encontrar piedras en el camino“ – „Aber Sie können Steinen auf dem Weg begegnen“) und immer stimmte alles; wenn einmal der Bussteig am Busbahnhof nicht angegeben war, so wusste ihn zuverlässig der dort anwesende Polizist (meist ein Mestize; das indianische Element in Chile ist überhaupt stärker als erwartet, stärker als in Argentinien und Uruguay).
Die Preise mäßig, kein Feilschen, kein Betteln, wenig Kriminalität und Korruption, obwohl stellenweise Armut. Chile ist weniger reich als Argentinien, wohin Chilenen als Gastarbeiter gehen – in Chile wiederum lernte ich einen Kellner aus Peru kennen – doch gibt es auch keinen Krisen erzeugenden Diebstahl des öffentlichen Reichtums wie in Argentinien. (Tatsächlich war sofort nach meiner Ankunft in Argentinien die dortige Nachlässigkeit in einem kleinen Detail festzustellen: im ersten argentinischen Hotel hatte man meine Zimmerreservierung verschlampt. − Die Überlandbusse in Argentinien waren allerdings noch komfortabler als in Chile, manche geradezu rollende Paläste mit Aussichts-Oberdeck und Gratis-Espresso.) Chilenen führen ihre Korrektheit ganz offen auf den Einfluss der deutschen Siedler in ihrem Land zurück, und Argentinier ihre Korruption auf das starke italienische Element in ihrer Bevölkerung. Viele Gebildete in beiden Ländern haben Ressentiments gegeneinander, wobei die energischere Führung Chiles (im Streit um Süd-Territorien) und sein Militärwesen die Argentinier stören.
Wirklich gab es am nächsten Vormittag eine gewaltige Wachablösung der „Carabineros“ (Gendarmerie, die Armee war unsichtbar) vor dem Präsidentenpalast, mit preußischen Märschen und Stechschritt; die neue Wache wurde übrigens von einer Frau kommandiert, die Wachposten am Palasteingang waren zwar nur Männer (Gardemaß), die Straßenpolizei aber mindestens zur Hälfte Frauen.
Und der Palast...war der, in dem Allende für seine Überzeugung starb! Schon am ersten Abend, als ich in einer „Bar“ bei meinem Hotel gute tropische Obstsäfte trank und den guten Ruf erwähnte, den das heroische Chile Allendes (seinerzeit) unter Westeuropas Jugendlichen hatte, zeigten mir die sympathischen Jugendlichen hinter der Theke nur gleichmütiges Wohlwollen: wie lange war auch das schon her! Später hörte ich sogar, dass wirklich viele Chilenen gegen Allendes Kurs waren, weil sie fürchteten, das Endresultat (nach westlichem Boykott!) werde nur sein, dass Chile so herunterkomme wie das übrige Lateinamerika. (Von Freunden hörte ich zwölf Jahre später, sie hätten viel Armut und wenig Effizienz festgestellt: eine Folge der neoliberalen Politik? Die aber doch schon seit dem Sturz Allendes betrieben wurde... Auf dem Monumentalfriedhof der Stadt aber steht auch das schlicht-moderne Grabmal Allendes, nahe dem von Balmaceda, einem Präsidenten des 19. Jahrhunderts, der auch wegen seiner Reformversuche gestürzt wurde und dabei sein Leben ließ.
Architektonisch schien mir die Stadt nichtssagend, außer in einigen zentralen Geschäftsstraßen mit moderner Eleganz unter schönen Bäumen, abends in kühlem Wind; die vielen FußgängerInnen drängeln oft. (Die Frauen sind in Argentinien im allgemeinen erotischer angezogen, hier sieht man mehr bäuerliche Typen, indianische Gesichter.) – In den berühmten „cafés con piernas“, d.h. „mit Beinen“, lassen gutgebaute Kellnerinnen in Miniröcken ihre Beine sehen, ohne aber vor die Theke zu gehen, an der die Männer stehen, so dass es bei ausgezeichneten Mixgetränken und dem bekannten „pisco“ bleibt. (Der Pisco-Likör ist eigentlich peruanisch, nur dass man sich dort kaum in die Bars trauen kann). – Das Essen gut, alles weniger luxuriös als in Argentinien (wo die Steaks auch „gut durch“ meist noch zart und saftig sind); sehr gern hatte ich die viele „palta“ (Avocado). Beim Frühstück im Hotel wird die chilenische Art des Kaffeetrinkens demonstriert: Pulver und Zucker in die Tasse, darauf nur heiße Milch oder gemischt mit heißem Wasser, nicht übel.
Die Gebäude aus der spanischen Zeit sind in Chile unbedeutend: von den für Südamerika bescheidenen Kirchen sind viele sind bei Erdbeben eingestürzt und neu aus Beton erbaut. Vor den Hafenstädten kleine Befestigungen: englische Piraten kamen im Auftrag der britischen Regierung sogar bis hier, wurden aber zurückgeschlagen. Die wenigen geschichtlich bemerkenswerten Häuser sind einfache niedrige Stadthöfe, rot verputzt (anderswo in Hispano-Amerika und in Manila sind sie meist weiß, reicher, eleganter) und haben wenig Mobiliar. – Anders als in Argentinien und Uruguay, aber ähnlich wie in den nördlichen Andenländern, kam mir die Malerei, auch die nachkoloniale, eher belanglos vor, hier vorwiegend Nachahmungen der europäischen Salonmalerei. – Das Spanische Chiles weicht, im Gegensatz zu dem Argentiniens, von der europäischen Norm nicht stark ab.
Busfahrt nach Valparaiso durch ein liebliches breites Tal mit Ackerbau, grün, umrahmt von Weinbergen. Neben mir saß ein Mitglied des Obersten Gerichtshofes, dessen Sitz in Valparaiso ist, gar nicht hochnäsig; wir sprachen über Reisen: er fühle sich in Europa mehr wie in Chile als im übrigen Südamerika; ich konnte seinen Eindruck gut nachempfinden, diese Reise war meine am wenigsten exotische nach Übersee.
Die Unterstadt von Valparaiso ist am Hafen laut und abgasgeschwängert, parallel zu diesem aber verläuft eine schon ruhigere Allee mit Gebäuden des Funktionalismus und der Belle-Epoque; ein großes Denkmal ehrt den britischen Admiral Cochrane, der wie andere Briten und (eingewanderte) Iren (O´Higgins) Südamerika in den Unabhängigkeitskriegen gegen Spanien half (im britischen Interesse, da Freihandel mit mehreren schwachen Staaten profitabler ist als mit Überseegebieten eines protektionistischen europäischen Reiches); in der Oberstadt stehen bunte, skurrile Holzhäuser, bescheiden, aber nicht mehr arm wie früher, ruhig und luftig im Sonnenschein, mit prächtiger Sicht auf Stadt und Meer; zwischen Ober- und Unterstadt gibt es eine erfreuliche Liftverbindung zwischen guten alten Fahrstuhltürmen.
Nahe eines von der Meeresbrise kühl durchrauschten Parks meine Unterkunft: ein Kolpinghaus! Ganz ordentlich, mit freundlichen, jugendlichen Herbergs„eltern“, die vielleicht ein Paar sind. Eine junge deutsche Lehrerin, die sich für zwei Jahre an die Deutsche Schule in Valdivia verpflichtet hat, fürchtet sich zu langweilen – und wirklich sind die chilenischen Städte etwas provinziell, auch die Hauptstadt; Valparaiso vielleicht am wenigsten. Ihre Freundin, die ein solches Jahr, allerdings nur eines, gerade beendet hat und mit der sie eine Chile-Rundreise macht, ist dagegen guter Dinge.
Schnellbahn nach Viña del Mar, schöne Strandanlage mit (für uns) preiswerten Restaurants; im schönen subtropischen Park der Villa Quinta Vergara (in venezianischem Stil) lässt es sich gut spazieren gehen: In dieser Atmosphäre der Verlässlichkeit ohne Pedanterie, vor allem ohne die bürokratischen Schikanen der Herrschenden in Ländern der „Dritten Welt“, kann man sich entspannt fühlen als wäre man zuhause. Kultivierte inländischen Touristen und herzliche Museumsführerinnen im Palacio Rioja (mit Inneneinrichtung in Neorokoko aus Paris). In dem schmucken stillen Villenviertel findet man einige hübsche Beispiele von Jugendstilarchitektur. − Nur in den kleinen seeabgewandten Alleen ist die Temperatur richtig sommerlich warm.
Die erste größere Überlandfahrt ging nach Talca (das ich gewählt hatte, weil ich es als „durchschnittlichen“ Ort betrachtete und für ein weiter entferntes Ziel zu lange bzw. nachts hätte reisen müssen). Durch noch „südlich“ anmutende Vegetation (der richtige Süden ist ja in Chile kalt) fuhr der Bus in das ältliche Zentrum der kleinen Stadt, die einem südfranzösisches Provinznest ähnelte: niedrige weiße Häuserreihen, verschlafen an Kastanienalleen mit teilweise verworfenen Gehsteigen aus kleinkarrelliertem Beton, auf einen bescheidenen Hauptplatz mündend, mit einem immer verschlossenen Museum in einem kleinen Kolonialgebäude; die Pension befand sich in einem Haus jener Alleen, innen ein Patio mit gut gehaltenen Pflanzen; die Eigentümerin freundlich, eine fröhliche hübsche Rezeptionistin; ein gemütlicher Salon, in dem ich der Unterhaltung des Eigentümers mit einem befreundeten, ebenfalls betagten Herrn aus der Stadt beiwohnte: beide waren offenbar Liebhaber der Regionalgeschichte, diskutieren lebhaft, doch freundschaftlich, das umstrittene Verhalten gewisser Heldenfiguren des 19. Jahrhunderts.
Ein deutscher Gast will in die Araukarienwälder am Fuß der Anden, fragt mich vergeblich danach. Ein junges amerikanisches Paar war im „großen Süden“, wohin ich will, ermutigt mich. −Sonst sehr wenige Touristen.
Am zweiten Abend hier wird der Wahlsieg der Präsidentschaftskandidatin Bachelet gefeiert: ihre AnhängerInnen ziehen jubelnd durch die Straßen, aber eine Studentin, die mit ihrer Mutter in der Cafeteria feiert, in der ich mit dem Deutschen sitze, teilt ergänzend mit, dass mit Frau Bachelet gar nicht die erste Frau in Lateinamerika Präsidentin geworden sei, wie behauptet wurde, und dass man Zweifel an ihrem sehr vagen Sozialprogramm habe – wahrscheinlich werde sie dafür weniger Geld haben als der konservative Gegenkandidat für seine diesbezüglichen Versprechungen. (Und tatsächlich kürzte sie ein knappes Jahr später die Sozialleistungen; einige hat sie dann doch verbessert, anderseits Autonomie- und Umweltschutzbestrebungen der Mapuche brutal unterdrücken lassen; sie unterlag 2010 ihrem Rivalen.)
Weiter nach Concepción, einer großen heißen Arbeiterstadt, in der ich aber keine proletarische Atmosphäre, sondern nur billige Moderne und unfreundliches Konsumententum vorfand. Die vergeblich vorbestellte Unterkunft starrte vor Schmutz und feindseligen Gesichtern, unklar, warum. Also fragte ich einen Taxichauffeur nach einem passablen Hotel und verzichtete auf den Besuch der früheren Bergarbeiterstadt Loca, die mir als inzwischen heruntergekommen und kriminalisiert dargestellt worden war – und danach wollte ich mich nun doch lieber richten. Stattdessen konnte ich mich vor der nächsten längeren Busfahrt ausgeschlafen. Diese führte durch eine mitteleuropäisch anmutende Landschaft bewaldeter Berge und gewellter Getreidefelder nach Valdivia. Die für ihr Deutschtum bekannte Stadt an der Vereinigung zweier Flüsse hat eine hohe Uferanlage, zu der Seelöwen kommen und mit Abfällen der Fischer gefüttert werden; und auf der anderen Seite des Flusses, auf der Insel Teja, den hässlichen Rest einer abgebrannten deutschen Bierbrauerei, in dem die prätentiöse Ausstellung eines modernen Bildhauers („New Brutalism“ in rostigem Eisen, vage pazifistische Slogans) vor sich hin dämmert: außerdem die Villa des deutschen Einwanderer(führer)s Anwandter, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Bierbrauer-Dynastie gründete: innen und außen altdeutsch, recht anheimelnd auch die deutschen Urkunden und gestickten Wandsprüche, interessant die historischen Fotos. Im Museum von Valdivia befindet sich ein Mapuche-Gedenkraum mit einem Gedicht an der Wand, das eine Mestizin ihrem Kind vorlas und mir dann auf Spanisch übersetzte. Von der Kultur der Indianer in Chile ist weniger erhalten als in Peru, sie war auch weniger bedeutend; auch gibt es relativ wenige ausgesprochen indianische Dörfer. Vor der weiter westlichen Flussmündung in den Pazifik umstehen schon skandinavisch wirkende Tannen auf Felsen die Befestigungen der Spanier gegen britische Piraten.
Die angenehme kürzere Fahrt nach Puerto Varas führt durch schöne Hügel- und Berglandschaft, durch Wälder und Wiesen mit kleinen Gehöften: nur deren geringe Dichte und manche Baumriesen wirken uneuropäisch. Hier war Anlaufsort der deutschen Besiedlung der Gegend: Häuser und besonders Kirchlein im Schwarzwald-Stil (Fachwerk) stehen am schönen See Llanquihue: der aber ist riesengroß und über seinem fernen Ufer gegenüber der kleinen Stadt erhebt sich der formvollendete Kegel des Osorno, grau-weiß im bläulichen Dunst über der Wasserfläche schimmernd! − Die Unterkunft ist eine „deutsche“ Pension: die Wirtin spricht meine Muttersprache noch, langsam und leise, als hätte sie Angst vor Fehlern; außen ist das Holz vom Regen gedunkelt, innen hell, gepflegt-glatt, wohl erneuert, da alle Ecken abgerundet sind.
Es gibt eine Broschüre über ein deutsches Bierfest, zu dem ich am nächsten Tag nach gutem Frühstück mit dem Taxi fahren muss, da es nicht unter den Bäumen der hübschen Fachwerkhäuserzeile des nahen, theoretisch deutschen Ortes Frutillar stattfindet – auf der Straße habe ich aber auch dort kein Deutsch gehört –, sondern auf einer großen Wiese weiter draußen: Bierzelte, gewöhnliche, aber teure Würstchen mit Kraut, deutsche Schnulzen aus Kofferradios, schlechter Kaffee an Ständen, wo die alten Verkäuferinnen nicht Deutsch sprachen, keine Zeit hatten, von ihrem Leben zu erzählen, sondern auf eine Jüngere zeigten, die „Deutsch gelernt“ habe, aber diese sagte einfach: „Ich habe keine Lust“. Da wartete ich nicht mehr auf den Auftritt einer Volkstanzgruppe Stunden später, sondern ging zurück zu dem Flamen mit dem Wildwest-Hut, der den Eintritt kontrollierte; er bedauerte, dass ich mir die „einzigen anständigen“ Bewohner des Landes nicht näher ansehen könne, besorgte mir aber einen Sitz in einem Sammeltaxi. – Vormittags darauf zur Sonntagsmesse im Schwarzwaldkirchlein von Puerto Varas: die Messe ist auf Spanisch, eine Folge der an sich „kundenfreundlichen“ Verfügung des 2. Vatikanischen Konzils, Messen in der Landessprache zu lesen; in Südtirol, im Friaul und eben auch hier führte das aber zu einer Unterdrückung der Minderheitssprache. Der Gesang war besonders schön, hatte aber keine deutsche Melodien; sehr freundlicher Pfarrer, lustige kleine (Mestizen-) Ministranten. Über diese Gegend, vor allem die Indianer, habe ich eine von meiner Frau aufgestöberte ausgezeichnete Erzählung von S. v. Vegesack aus den dreißiger bis fünfziger Jahren gelesen: „Die gestohlene Seele“.
Mit dem Bus weiter nach Süden, wo schon kaltes Wasser an die Quais eines „Wild-West“-Städtchens schlug: Puerto Montt, in dessen „schrägen“ Kneipen aber freundlich-ländliche Typen anständiges Essen zu korrekten Preisen servierten. Mein Hotel ist vorzüglich und preiswert. Es gab ein hauseigenes Taxi zum Flugplatz. Der Flug nach Punta Arenas gab leider kaum Sicht auf die hier besonders wilden Berge der Anden, da er über Wolken ging: diese entziehen ja den Touristen auch vom Boden aus meistens die Ansicht der bizarr geformten Bergspitzen.
Punta Arenas: eine der südlichsten Städte der Erde, ist überraschend groß, lebhaft und hell in der unwirtlichen Gegend, die aber für ihre geringe Bevölkerung, jedenfalls die nicht-indianische, reich genug ist, nämlich an Schafen. In „sommerlichem“ Sonnenschein und kühlem Wind stehen im Zentrum neubarocke Häuser mit Jugendstileinschlag, aus Frankreich importiert oder imitiert, besonders bei der Inneneinrichtung: Stadtpalais der reichen englischen, deutschen und spanisch-chilenischen Schafzüchter Patagoniens (Menéndez Braun), manche umgewidmet, so im Club de la Unión die nun allgemein zugängliche gute Bar und der Stadtgeschichte gewidmete Räume; das alte Prachthotel etwas abgeschabt, aber immer noch mit bequemen Treppen zu breiten Gängen und großen, hellen Zimmern. Weiter draußen, an einer langen, baumlosen Straße das Museum der Salesianer über ihre Indianer-Mission und der große, gut gehaltene Friedhof mit sehr freundlichem, da zahlreichem Personal und Broschüren über die teilweise prunkvollen, oft historisch interessanten, locker nach Nationen geordneten Grabmäler: englische, deutsche, italienische, spanische, französische Inschriften; besonders bemerkenswert das Denkmal für die Gefallenen von der Schlacht bei den Falklandinseln (Matrosen der deutschen Kriegsschiffe), und die Statue des Unbekannten Indianers, die auf die Magellanstraße weist; hier, beim Blick über die Friedhofsmauer, allein mit Wind, Gras und Stein fühlt man die bald arktische Natur noch stärker als am Hafen, obwohl man dort eine bessere Sicht auf die kaltblau oder unter Wolken grau funkelnde Meerenge hat, und auf die rosa oder mattbraunen kahlen Erhebungen des am Horizont lang gestreckten Feuerlandes.
Kurze Busfahrt durch Weideland mit zerzausten Bäumen in das winzige Puerto Natales, dem Ausgangspunkt der mehrtägigen Fahrt mit einem Viehtransport-, Versorgungs- und Passagierschiff durch die Insel- und Gletscherwelt Südchiles zurück nach Puerto Montt: trotz heftigen Regens und Windes wird das Schiff gehen, es liegt schon am Steg unter einer Wiese am Ortsrand, an welchem auch das kleine, komfortable Hotel steht, eine Oase in dieser rauen Gegend; der französische Hotelier ist jedoch unzufrieden, da hier alles Mangelware ist, die Reparaturen verzögert werden...der Orts„kern“ eine Plaza – so muss es in hispanischen Orten sein – vom Wind zerblasen, als Mitte einiger niedriger Häuserzeilen, umrandet von geduckten weißen Bauten und gekrümmten dunkelgrauen Kiefern, ein gutes Schwarz-Weiß-Foto, wenn man Augen und Linse im querfliegenden Regen aufmachen könnte.
Auf dem Schiff habe ich älterer Herr nach oft wiederholten früheren Strapazen doch eine (teure!) Kabine reserviert – zum Glück, denn die billigeren Kojen der weiter unten gelegenen „Großraumkabine“ hatten nur an zwei Randlagen „Seeblick“ und die Ausdünstung der Schafe (und Rinder), die ab dem zweiten Tag das ganze Schiff außer den 1.-Klasse-Kabinen durchzog, muss in der finsteren Enge der 2. Klasse stark gewesen sein. Es blieb unklar, ob und wo ihre mehr als zwanzig jugendlichen Passagiere zu essen bekamen, wir zehn von der ersten Klasse aßen (ganz gut) in der Offizierskantine. Diese Zustände fand ich doch etwas arg, habe sie auch in dem Blatt für Kommentare angeprangert.
An alle wurden aber vom Schiffsarzt Tabletten gegen Seekrankheit ausgegeben, und über den Lautsprecher wurden wir einige Stunden vor Erreichen des besonders stürmischen Abschnitts ohne Inseln zwischen dem Schiff und dem offenen Pazifik aufgefordert, sie einzunehmen. Ich aß dann aber im Vertrauen darauf, dass ich ja nie seekrank wurde, das ganze Obst, das in der Kabine auslag, auf einmal, und so wurde mir in der Nacht doch schlecht. Die Kabine hatte ein eigenes WC und Dusche, aber der Sturm dauerte von einem Mittag bis zum nächsten.
Das Wetter war auch sonst selten gut, so dass man auf die kahlen oder vergletscherten Ufer bzw. die schneebedeckten Berge dahinter meist nur vernebelte Ausblicke bis zur halben Höhe hatte, selbst wenn man, wie ich, viel an Deck war. Bei einem ins Wasser gehenden Gletscher wurde, wie immer, ein Beiboot ausgeschickt, dessen Besatzung von den Schollen des Gletscherrandes Eis losschlug, welches dann auf dem Schiff zu einem Drink „on the rocks“ verabreicht wurde. (Wegen des hohen Seegangs durften keine Passagiere mit auf diese Expedition.) Der geplante Besuch in einem Dorf der Ureinwohner, Puerto Eden (?), und damit deren wöchentliche Belieferung durch das Schiff, fiel aus, weil wir wegen des schlechten Wetters nicht landen konnten.
Mehr von den Gletscherriesen und schneebedeckten Vulkankegeln der südlichen Anden sah ich auf dem Rückflug von Puerto Montt nach Santiago, einiges auch noch auf der Busfahrt von dort über die Anden nach Argentinien, obwohl die Strecke (jetzt durch einen Tunnel verharmlost) eher durch teils verschneite, teils braune Gesteinsmassen als durch steile Wände führt. Natürlich war ich immer in Hochstimmung durch das Bewusstsein, nun wirklich an diesen legendären Stellen der Erdkugel zu sein, und (wie mein Vater) durch die Tatsache der Überschreitung politischer Grenzen: andächtig hörte ich, während wir beim Grenztunnel im Freien zur Passkontrolle anstanden, der Dame hinter mir zu, die erklärte, dass die argentinische Flagge an der Tunnelwand deswegen so zerfetzt sei, weil sie traditionell erst kurz vor ihrem totalen Zerfall ersetzt werden dürfe.
Auf der argentinischen Seite passierten wir Puente del Inca nahe dem (nicht zu sehenden) Aconcagua, und durch bläuliche Hügel, Ausläufer der Anden, ging es in die hier noch gewellte Ebene. Es gab warmen Sonnenschein auf der Fahrt durch eine schöne Weingegend nach Mendoza, einer sommerlichen, südspanisch wirkenden Stadt: helle Straßen hübsch von schmalen Kanälen unter Bäumen gesäumt, z.T. reich dekorierte Fassaden (wieder Belle-Epoque), lebhafte Menschenmengen, Frauen in Sommerkleidern.
Rasante Fahrt im halboffenen Stadtbus hinaus zur Casa de Fader, einer Villa aus den dreißiger Jahren in Form eines rostbraunen Blocks, mit erfrischendem Garten nach dem Besuch der Gemäldegalerie, die einige der oft recht guten argentinischen und uruguayischen – manchmal unklar bzw. beiden Ländern zuzuordnen – Maler zeigt: Gemälde und Zeichnungen über Historisches ab den Befreiungskriegen, Landschaften, Genre, urbaner Realismus des 20. Jahrhunderts.
Im hübschen Patio des Hotels unterhielt ich mich mit Leuten aus der Stadt und dem jungen Portier bei einem Kaffee über die argentinische Politik; einmal kam der Portier mit einem Sandwich auf mich zu und sagte. „Toma, amigo“, „Nimm, Freund“!
Es folgte eine lange Busfahrt durch eine langweilige, sonnig-warme Ebene (die Höhenzüge der Landkarte sind kaum erkennbar), durch fruchtbare Äcker und Weiden (aber wenig Mensch und Tier zu sehen) nach Córdoba; dessen Altstadt wurde sehr hübsch in südspanischem Renaissance/Barock-Rokoko gebaut, mit den schütteren Bäumen der südlichen Länder und ihren Plätzen im hellen Sonnenlicht, aber umgeben von schattigen Arkaden; in den modernen Straßenzügen auch wieder neubarocke und manchmal Jugendstilbauten, so das Theater, wie auch in Mendoza und Buenos Aires. – Sehr oft wurde überall hier die „cuadra“-Einteilung des Barocks in rechtwinklige Straßengitter verwirklicht, häufig mit Zahlen als Straßennamen, wie in Mannheim, Manhattan usw. und eben Iberoamerika; obwohl das System auf dem Plan sehr übersichtlich scheint, irrt man sich gelegentlich in der Richtung und geht dann bei fehlenden Straßenschildern erstaunlich lange falsch… jedenfalls geht es mir so.
Bemerkenswert im Sobremonte-Palast wieder Gemälde, vor allem aber die Führung durch das Gebäude-Ensemble der renommierten Universität und ihrer würdevollen Kirche, Gründungen der Jesuiten, unter denen auch Architekten aus Bayern wirkten (und auf die bayrischen Formen besonders mancher Kirchtürme wird hingewiesen); sie betrieben Mission und Landgüter in der Umgebung. (Diese Wein- etc.-Güter waren zu schwer zu erreichen, ich sah nur Fotos.) Im späten 18. Jahrhundert wurden sie bei der vorübergehenden Aufhebung des Jesuitenordens vertrieben: die Erwähnung dieser Tatsache rief bei zwei Damen in der (außer mir zur Gänze argentinischen und lebhaft teilnehmenden) Touristengruppe antiklerikalen Beifall hervor, den der uns führende Student aber mit einer Schmerzensgeste seines schönen Gesichtes und mit einer korrigierenden Ausführung beantwortete: war doch eine der Ursachen der Vertreibung die Feindschaft der weißen Siedler gegen den Schutz der Indianer durch die Patres.
Auch in Córdoba spaziert man in lebhaften, hübschen Menschenmengen, die Stadt ist touristischer und etwas mehr „sophisticated“ als Mendoza, mit leicht „aufgemascherlten“ Studentenlokalen. Das dürftigere und strengere Chile kam mir in der hiesigen Lebensfreude nicht mehr so unbedingt sympathischer vor als gleich nach dem Grenzübertritt.
Die Reise ging ja auch ihrem Ende zu, und zwar zunächst mit einer Fahrt durch das unerwartet fruchtbare eintönige Flachland der nördlichen Pampa (wie ich später las, vor 100 bis 70 Jahren gerodet, wobei deutsche Siedler Pionierarbeit leisteten). Im Oberdeck eines Luxusbusses boten mir meine Sitznachbarn, ein Herr meines Alters und sein Sohn, an, mit ihnen auf die Ranch ihrer Familie zu fahren. Nun waren wir auf unserer zweiten Südamerikareise schon auf einem Landgut zu Besuch gewesen, und so konnte mich die Aussicht, „jagen gehen“ zu können, erst recht nicht verlocken. Doch war dies ein Beispiel der mir von anderen später gelobten Gastfreundschaft in Argentinien.
Durch die uns von früher schon bekannte, jetzt viel moderner erscheinende Stadt Rosario nach Buenos Aires. Da ich die ärmlicheren Viertel auf dieser Reise nicht extra angesehen habe – mindestens in Argentinien gibt es ja durchaus Armenviertel, in Buenos Aires liegen sie vorwiegend im Süden der Stadt –, überwog der glänzende Eindruck von breiten Boulevards, großen Plätzen mit schönen Bäumen und nachts großzügiger Beleuchtung; es herrschte flutender und doch nicht rücksichtsloser Verkehr; die bekannten historisch bedeutsamen Gebäude sind relativ klein und bescheiden, die Gebäude ab ca. 1880 prächtig. Ich machte billige Taxifahrten zu Museen (die allerdings oft während ihrer Öffnungszeiten zu waren, wie in Italien) und nochmals zum La Boca-Viertel mit dem Museum des Malers Quinquela Martín; vom Balkon seines Hauses schaute ich auf den Hafen wie 1985; jetzt sah er weniger poetisch und weniger arm aus; auf dem Rückweg kam ich bei einer gekonnten Tango-Vorführung auf einem kleinen Platz vorbei… Beim Frühstück im smarten kleinen Hotel lernte ich drei tangowütige Engländerinnen kennen, die mich in ein schönes altes Café und dann zu einer „echten“ Tango-Tanzdiele mitnahmen: krampfhaft erotische Figuren wurden dort brillant von dabei einsam bleibenden Menschen getanzt, die Frauen eine Augenweide.
Wieder mit dem Tragflügelboot über die braunen Fluten des weiten, öden La Plata-Flusses nach Montevideo, wo ich die modernen Hochhäuser und andere im extravagantesten Jugendstil wiedersah, die ähnlich aufregenden Denkmäler und mehrere Palais aus der spanischen Zeit in einfachem Barock und Klassizismus, vor allem aber gemütliche kleine Wohnstraßen, etwas verbeulte Gehsteige und Fassaden, aber alles entspannt im Vergleich zu Buenos Aires; die Hotelwirtin aus Nordspanien, wo ich es in den ruhigen Kleinstädten eigentlich ähnlich fand wie hier, war aber von der Lebensart in Uruguay nicht erbaut; mit entwaffnender Ehrlichkeit sagte mir später eine Gastwirtin, die ich nach der besten hiesigen Zeitung fragte, es gebe nur schlechte – der Inhaber eines Zeitungskioskes bestätigte das und erklärte mir, das kulturelle Leben stagniere auf die Dauer in einem so kleinen Land, das nach heldenhafter Erringung der Unabhängigkeit sich zu sehr auf seine Identität verlasse; beide Äußerungen fand ich hoffnungsvoll offen. Der Lebensstandard schien etwas niedriger, die Preise waren etwas höher als in Argentinien.
Weiter draußen befinden sich ein interessantes Geschichtsmuseum und das Kunstmuseum, in dem wir bei unserer ersten Reise nur kurz abends waren, ein vor 30 Jahren moderner Bau in einem großen, etwas zerrupften Park: die wenigen (inländischen) BesucherInnen und die Kustodinnen waren schick und teilweise miteinander bekannt, offenbar eine gesellschaftlich gehobene Insider-Gruppe (wiederum: eine kleine Welt?); gute Maler.
Auf dem Rückweg 177 km mit schnellem Bus entlang der stark bebauten Küste, unter den Siedlungen auch schweizerische, nach Colonia (del Sacramento), einer portugiesischen Gründung des 17. Jahrhunderts. Hübsche alte Häuser, klein und hell, stehen unter Bäumen an ruhigen Straßen, sehr sympathisch. Zu besichtigen sind das interessantes historische Museum sowie das Haus des irischen Admirals Brown, der die uruguayische Flotte (und die brasilianische, unter der Erzherzogin Leopoldine, der Frau Pedros I.) errichten half. Die Villa ist niedrig, wie alle Bauten außer der ebenfalls bescheidenen Kirche. (Eine französische Familie, welche diese Stätten ebenfalls besichtigte – wieder einmal waren Franzosen überdurchschnittlich interessierte Touristen – sprach die Kustodinnen allerdings ganz selbstverständlich auf Französisch an, was zu Schwierigkeiten und gutmütigem Spott seitens der uruguayischen Damen führte.)
Abends nahm ich Fähre nach Buenos Aires, von wo ich zwei Tage später nach Europa zurück flog.
Fauler Zauber? - die Karibik
Auf Martinique (einem Überseedepartement Frankreichs) ist „französisches“ Verhalten auch bei Schwarzen zu beobachten: schon bei der Einreise fragte mich der schwarze Zöllner (in eleganter Khaki-Uniform mit Képi), der meine Bücher begutachtete: „Ah, vous lisez Glissant, monsieur?“ und sagte auf mein schüchternes Ja, das sei doch ein guter Autor der Antillen: „Ah oui, monsieur, lisez, lisez toujours!“ – Beim Hotelfrühstück frage ich nach der Milch, und die (schwarze) Kellnerin antwortet schnippisch, das habe sie mir schon einmal gesagt (es war natürlich ein anderer Tourist, aber die Weißen schauen eben auch alle gleich aus); dieselbe Frau kommt nachmittags auf die Veranda, wo ich lese, und fegt; ich frage sie nach ihrer Arbeitszeit, diese ist gleich um, ihr Verlobter sollte schon die Straße herunter kommen, sie abzuholen. Auf meine Frage, ob dort oben an der Straße nicht (der politisch engagierte Dichter) Aimé Césaire wohne, antwortet sie: „Eh oui, und er kann die Politik auch nicht lassen!“ – Elegante Hochzeitsgesellschaft von MulattInnen mit lässig-schönen Bewegungen vor einer Kirche im etwas schäbigen alten Stadtzentrum; einige ältere kleine Häuser in Fort-de-France haben keinen Tropenstil, sondern den eines nordfranzösischen Provinznestes der 60e Jahre; schöner großer Wiesenplatz La Savane.
Auf dem kleinen Nevis (von Kolumbus übersetzt „Maria Schnee“ genannt), einem kompakten grünen Kegel, eine Admiral-Nelson-Gedenkstätte ohne andere Touristen: das Kirchlein, in dem er heiratete. Die Hauptstadt ein Dorf, in dem es nur ein hektographiertes Wochenblatt der Pfarrei gibt. Außerhalb des Ortes führt eine stille Landstraße in der Hitze des Tages zwischen tropischen Bäumen um die Insel.
Ich mache schon bald an einem Strand Halt, ohne jedoch über den schmutziggrauen Sand in das warm plätschernde Wasser zu gehen, bleibe lieber im Schatten der Palmen. Da nähert sich mir eine (nicht mehr ganz) junge Frau (ich bin ja aber „schon“ 52) in einem einfachen Kleid mit ein paar Löchern und fragt mich, ob ich mit dem Schiff gekommen sei: Nein, mit dem Flugzeug, und nicht von (der Nachbarinsel) St Kitts, da wolle ich erst hin. Ob ich an Geister glaubte – die gleiche Frage hatte mir schon einmal jemand gestellt, ein Schotte, der mich in seinem Auto von Edinburgh nach Durham mitnahm und an Geister glaubte, und ich antwortete wieder: Ja, also, Katholiken glaubten an Schutzengel. Ob ich glaubte, dass Geister auch Böses täten, eine Verwandte sei nämlich vor einiger Zeit mit dem Schiff nach St Kitts untergegangen, und jetzt sei gerade ein Vetter auf dem Schiff dorthin. Ich fragte die Frau, ob ihre Familie mit irgendwelchen der Geister besondere oder gar problematische Beziehungen habe, – wenn ja, könne man Verfehlungen bereuen und so wieder ein gutes Verhältnis herstellen; aber sie konnte sich keiner Besonderheiten entsinnen, und so meinte ich, wenn jene Geister überhaupt Unglück bringen wollten, dann sei es doch unwahrscheinlich, dass sie zweimal so bald hintereinander bei derselben Familie zuschlügen. Das schien die Frau zu beruhigen und sie ging mit guten Wünschen ihres Weges.
Mir wollte scheinen, dass es die Bewohner der (noch immer) französischen Inseln besser hätten als die auf den ehemals britischen, die ja mindestens ebenso weiter ausgebeutet werden (wenn die Antillen es überhaupt noch werden), ohne aber die sozialen Einrichtungen des „Mutterlandes“ zu genießen. Wenn Frankreich aus den ehemaligen Sklaven Franzosen machen wollte, deren Afrikanertum also gefährdete, so hatte die britische Toleranz (die ja auf der Gleichgültigkeit derer beruht, die andere für unfähig halten, je das eigene Niveau zu erreichen) doch kaum afrikanische Kultur bewahrt, denn diese war ja schon abhanden gekommen, gleichsam bereits auf den Sklavenschiffen. Manchmal konnten (entlaufene) Sklaven dann selbst eine eigene Kultur hervorbringen, welche mit Hilfe herübergeretteter afrikanischer Elemente mehr darstellte als nur eine Lumpen-Variante der europäischen Zivilisation. So wohl in Jamaika, wo ich aber (im Gegensatz zu unserem Sohn) auf einer Fahrt durch das gebirgige Landesinnere nicht viel von der Kultur der „Maroons“ mitbekam – und an dessen Armut und Kriminalität nicht erinnert werden muss.
Aber Haiti! Es hat in seiner schon 200 Jahre alten Eigenstaatlichkeit (um nicht zu sagen: Unabhängigkeit) kreolisierte Varianten afrikanischer und französischer Kultur bewahrt, ist aber dabei in tiefe Armut gestürzt.
Mein Zimmer war im alten Nobelhotel Oloffson, einem schönen, geräumigen Holzgebäude im Zuckerbäckerstil, das Graham Greene bewohnt hatte, und in dessen Bar mit großen Korbstühlen sich am späten Nachmittag auch Mitglieder der „guten“ Gesellschaft von Port-au-Prince versammelten. Die gewöhnlichen Stadtbewohner waren so arm wie die der Elendsviertel von La Paz; die meist hölzernen Häuser an den selten geteerten Straßen halb verfallen, die Gehsteige schief und an den Rändern abgebrochen, überall rötlicher, verschmutzter Staub. Groß und weiß der Präsidentenpalast auf verbrannten Rasenflächen; hier residierte Aristide, die damalige Hoffnung der Armen.
Eine Busfahrt nach Cap-Haïtien an der Nordküste führte durch abgeholztes, rotbraunes Land; die Erosion hatte die Armut der Kleinbauern noch verstärkt: nach dem Befreiungskrieg der Sklaven um 1800 hatten diese das Plantagenland unter sich aufgeteilt und statt Zucker Feldfrüchte für den Eigenbedarf angebaut; aber die ohnehin kleinen Grundstücke wurden bei zunehmender Bevölkerung ganz unzureichend, und die korrupten (schwarzen) Diktatoren, die mit wenig besseren Präsidenten aus der mulattischen Oberschicht abwechselten, stürzten dies erste frei gewordene Land der Schwarzen ins Elend: den Größenwahn seiner Kaiser konnte ich in dem mächtigen Bau der „Citadelle“ bewundern. – Im Bus ging es auch wieder zurück, ständig mit den Staubwolken der vor uns auf dem unebenen Boden schaukelnden Fahrzeuge – alle fuhren in ständigem Slalom um die Schlaglöcher herum, zum Glück langsam, und die Leute waren gutmütig, wie auch sonst im Alltagsleben (d.h. außer bei politischen Konflikten; damals mindestens gab es kaum private Kriminalität): der eine weitere weiße Tourist, noch älter als ich, erhielt einen bequemen Sitz neben dem Chauffeur, und hinten im Bus sangen Nonnen Gebete.
In einer Nacht fiel im Hotel der Strom für eine Weile aus, worauf ein alter Diener Kerzen und gekühlte Getränke auf die Zimmer brachte. Am Tag danach wurden wir davor gewarnt, das Hotel zu verlassen, da nach einem angeblichen Putschversuch gegen Präsident Aristide die Stadt in Aufruhr sei. Ich war froh, die Besichtigungen (so des Kunstmuseums: naive Malerei) schon gemacht zu haben, fürchtete aber, bei Schließung des Flugplatzes und Ausfall des nächsten wöchentlichen Fluges nach Jamaika nicht so bald von hier weg zu kommen. – Nach dem Mittagessen schaute ich mit einem Amerikaner von der Veranda auf die Meeresbucht weit unten. Er hatte hier schon einmal einen Putschversuch miterlebt, damals gegen den Diktator „Papa Doc“. Die zwei Schiffe der Kriegsmarine waren in See gestochen und hatten den Präsidentenpalast unter Beschuss genommen. Als aber die (wenigen) Flugzeuge der Luftwaffe versuchten, sie mit Bomben zu versenken, gaben sie auf und fuhren ins Asyl nach Miami. Den Familien der putschenden Offiziere geschah nichts, aber die Familien der viel zahlreicheren Matrosen wurden, obwohl unschuldig, von den „Tontons Macoute“ des Diktators ermordet. So verliefen viele lateinamerikanische Putschversuche, ohne Verantwortungsbewusstsein bei ihren Anführern.
Am Nachmittag kam ein englischer Gast aus der Stadt, um den man sich schon Sorgen gemacht hatte: er wusste von alledem nichts, und sagte, nun könne er sich die Haufen von Autoreifen mit jeweils vielen Leuten dabei erklären. Scherzte er? Aber dieser „typische“ Engländer hatte mir auch erzählt, er sei hierher gekommen (und verdiene inzwischen seinen Lebensunterhalt mit Englischstunden), da er, wie so mancher sehr englische Engländer, nicht mehr in England habe leben wollen. So habe er seinen Laden verkauft und sich dafür „ein Segelboot gekauft“. „Und die Reise hierher?“ fragte ich. „Eben in dem Segelboot“: er war allein über den Atlantik gesegelt.
Gegen Abend hatte sich die Lage beruhigt, die einheimische Oberschicht wagte sich aus ihren Villen zur Bar des „Oloffson“. Ein kleiner älterer Herr mit blanker Glatze und Spazierstock, das Beige des leichten Anzugs in eleganter Kombination mit seiner Hautfarbe, war eine der Berühmtheiten dieser mindestens zahlenmäßig beschränkten Kreise. Er kam auf mich zu und fragte mich, ob ich in Wien einen gewissen hochgestellten Exilanten kennen gelernt hätte. Als ich bejahte (wir wollten jenen Herrn zu einem Vortrag ins Institut für Romanistik einladen, wie auch Südamerikaner und westafrikanische Studenten; letztere aber stritten sich dabei so, dass wir die Aktion abbrachen), sagte mir mein Gegenüber unverändert soigniert, ich wisse aber wohl nicht, dass jener inzwischen tot sei. – Nein, das hatte ich nicht gewusst. (Auch wusste ich nicht, warum sich dieser Herr dafür interessiert hatte, woher ich war.)
Erstmals ging ich nun an die Bar und trank vier „Planter´s Punch“; zuletzt empfahl mir ein anderer (weißer) Trinker, „die Struktur meiner Sexualphantasien zu ändern“. Ich ging auf mein Zimmer und fand, ich müsse noch bei einer Zigarre etwas lesen. Als ich mich danach hinlegte, merkte ich, dass sich die Wände des Zimmers langsam drehten. Das erlebte ich jetzt also doch einmal! Es hörte kurz auf, begann aber wieder, und ich wollte versuchen, es durch Erbrechen zu beenden. Als ich aber vor dem Waschbecken stand, hörte es überhaupt auf.
Am nächsten Vormittag erfuhr ich zu meiner Erleichterung, dass der Flugplatz nicht gesperrt sei. Dann kam eine Amerikanerin zu meinem späten Frühstück auf die Veranda, setzte sich und brach in Tränen aus. Sie war mit ihrem Auto auf der Fahrt zu einem Dorf, für das sie ein Hilfsprogramm organisiert hatte, an einer Straßensperre angehalten worden, und die Gendarmen hatten sie zurückgeschickt, weil sie sich nicht verständigen konnten. Ich fühlte mich stark und willigte ein, sie auf einem zweiten Versuch mit meinem Französisch zu begleiten. Die Gendarmen erwiesen sich als sehr höflich, sie wollten einfach nur unsere Ausweise sehen. Wir besuchten das Dorf, alles war hochzufrieden, und die wirklich sonst recht tüchtige Dame fuhr dann noch mit mir an den sauberen Strand von Jacmel, einem Ort mit hübschen Villen.
Mehr von den Gletscherriesen und schneebedeckten Vulkankegeln der südlichen Anden sah ich auf dem Rückflug von Puerto Montt nach Santiago, einiges auch noch auf der Busfahrt von dort über die Anden nach Argentinien, obwohl die Strecke (jetzt durch einen Tunnel verharmlost) eher durch teils verschneite, teils braune Gesteinsmassen als durch steile Wände führt. Natürlich war ich immer in Hochstimmung durch das Bewusstsein, nun wirklich an diesen legendären Stellen der Erdkugel zu sein, und (wie mein Vater) durch die Tatsache der Überschreitung politischer Grenzen: andächtig hörte ich, während wir beim Grenztunnel im Freien zur Passkontrolle anstanden, der Dame hinter mir zu, die erklärte, dass die argentinische Flagge an der Tunnelwand deswegen so zerfetzt sei, weil sie traditionell erst kurz vor ihrem totalen Zerfall ersetzt werden dürfe.
Auf der argentinischen Seite passierten wir Puente del Inca nahe dem (nicht zu sehenden) Aconcagua, und durch bläuliche Hügel, Ausläufer der Anden, ging es in die hier noch gewellte Ebene. Es gab warmen Sonnenschein auf der Fahrt durch eine schöne Weingegend nach Mendoza, einer sommerlichen, südspanisch wirkenden Stadt: helle Straßen hübsch von schmalen Kanälen unter Bäumen gesäumt, z.T. reich dekorierte Fassaden (wieder Belle-Epoque), lebhafte Menschenmengen, Frauen in Sommerkleidern.
Rasante Fahrt im halboffenen Stadtbus hinaus zur Casa de Fader, einer Villa aus den dreißiger Jahren in Form eines rostbraunen Blocks, mit erfrischendem Garten nach dem Besuch der Gemäldegalerie, die einige der oft recht guten argentinischen und uruguayischen – manchmal unklar bzw. beiden Ländern zuzuordnen – Maler zeigt: Gemälde und Zeichnungen über Historisches ab den Befreiungskriegen, Landschaften, Genre, urbaner Realismus des 20. Jahrhunderts.
Im hübschen Patio des Hotels unterhielt ich mich mit Leuten aus der Stadt und dem jungen Portier bei einem Kaffee über die argentinische Politik; einmal kam der Portier mit einem Sandwich auf mich zu und sagte. „Toma, amigo“, „Nimm, Freund“!
Es folgte eine lange Busfahrt durch eine langweilige, sonnig-warme Ebene (die Höhenzüge der Landkarte sind kaum erkennbar), durch fruchtbare Äcker und Weiden (aber wenig Mensch und Tier zu sehen) nach Córdoba; dessen Altstadt wurde sehr hübsch in südspanischem Renaissance/Barock-Rokoko gebaut, mit den schütteren Bäumen der südlichen Länder und ihren Plätzen im hellen Sonnenlicht, aber umgeben von schattigen Arkaden; in den modernen Straßenzügen auch wieder neubarocke und manchmal Jugendstilbauten, so das Theater, wie auch in Mendoza und Buenos Aires. – Sehr oft wurde überall hier die „cuadra“-Einteilung des Barocks in rechtwinklige Straßengitter verwirklicht, häufig mit Zahlen als Straßennamen, wie in Mannheim, Manhattan usw. und eben Iberoamerika; obwohl das System auf dem Plan sehr übersichtlich scheint, irrt man sich gelegentlich in der Richtung und geht dann bei fehlenden Straßenschildern erstaunlich lange falsch… jedenfalls geht es mir so.
Bemerkenswert im Sobremonte-Palast wieder Gemälde, vor allem aber die Führung durch das Gebäude-Ensemble der renommierten Universität und ihrer würdevollen Kirche, Gründungen der Jesuiten, unter denen auch Architekten aus Bayern wirkten (und auf die bayrischen Formen besonders mancher Kirchtürme wird hingewiesen); sie betrieben Mission und Landgüter in der Umgebung. (Diese Wein- etc.-Güter waren zu schwer zu erreichen, ich sah nur Fotos.) Im späten 18. Jahrhundert wurden sie bei der vorübergehenden Aufhebung des Jesuitenordens vertrieben: die Erwähnung dieser Tatsache rief bei zwei Damen in der (außer mir zur Gänze argentinischen und lebhaft teilnehmenden) Touristengruppe antiklerikalen Beifall hervor, den der uns führende Student aber mit einer Schmerzensgeste seines schönen Gesichtes und mit einer korrigierenden Ausführung beantwortete: war doch eine der Ursachen der Vertreibung die Feindschaft der weißen Siedler gegen den Schutz der Indianer durch die Patres.
Auch in Córdoba spaziert man in lebhaften, hübschen Menschenmengen, die Stadt ist touristischer und etwas mehr „sophisticated“ als Mendoza, mit leicht „aufgemascherlten“ Studentenlokalen. Das dürftigere und strengere Chile kam mir in der hiesigen Lebensfreude nicht mehr so unbedingt sympathischer vor als gleich nach dem Grenzübertritt.
Die Reise ging ja auch ihrem Ende zu, und zwar zunächst mit einer Fahrt durch das unerwartet fruchtbare eintönige Flachland der nördlichen Pampa (wie ich später las, vor 100 bis 70 Jahren gerodet, wobei deutsche Siedler Pionierarbeit leisteten). Im Oberdeck eines Luxusbusses boten mir meine Sitznachbarn, ein Herr meines Alters und sein Sohn, an, mit ihnen auf die Ranch ihrer Familie zu fahren. Nun waren wir auf unserer zweiten Südamerikareise schon auf einem Landgut zu Besuch gewesen, und so konnte mich die Aussicht, „jagen gehen“ zu können, erst recht nicht verlocken. Doch war dies ein Beispiel der mir von anderen später gelobten Gastfreundschaft in Argentinien.
Durch die uns von früher schon bekannte, jetzt viel moderner erscheinende Stadt Rosario nach Buenos Aires. Da ich die ärmlicheren Viertel auf dieser Reise nicht extra angesehen habe – mindestens in Argentinien gibt es ja durchaus Armenviertel, in Buenos Aires liegen sie vorwiegend im Süden der Stadt –, überwog der glänzende Eindruck von breiten Boulevards, großen Plätzen mit schönen Bäumen und nachts großzügiger Beleuchtung; es herrschte flutender und doch nicht rücksichtsloser Verkehr; die bekannten historisch bedeutsamen Gebäude sind relativ klein und bescheiden, die Gebäude ab ca. 1880 prächtig. Ich machte billige Taxifahrten zu Museen (die allerdings oft während ihrer Öffnungszeiten zu waren, wie in Italien) und nochmals zum La Boca-Viertel mit dem Museum des Malers Quinquela Martín; vom Balkon seines Hauses schaute ich auf den Hafen wie 1985; jetzt sah er weniger poetisch und weniger arm aus; auf dem Rückweg kam ich bei einer gekonnten Tango-Vorführung auf einem kleinen Platz vorbei… Beim Frühstück im smarten kleinen Hotel lernte ich drei tangowütige Engländerinnen kennen, die mich in ein schönes altes Café und dann zu einer „echten“ Tango-Tanzdiele mitnahmen: krampfhaft erotische Figuren wurden dort brillant von dabei einsam bleibenden Menschen getanzt, die Frauen eine Augenweide.
Wieder mit dem Tragflügelboot über die braunen Fluten des weiten, öden La Plata-Flusses nach Montevideo, wo ich die modernen Hochhäuser und andere im extravagantesten Jugendstil wiedersah, die ähnlich aufregenden Denkmäler und mehrere Palais aus der spanischen Zeit in einfachem Barock und Klassizismus, vor allem aber gemütliche kleine Wohnstraßen, etwas verbeulte Gehsteige und Fassaden, aber alles entspannt im Vergleich zu Buenos Aires; die Hotelwirtin aus Nordspanien, wo ich es in den ruhigen Kleinstädten eigentlich ähnlich fand wie hier, war aber von der Lebensart in Uruguay nicht erbaut; mit entwaffnender Ehrlichkeit sagte mir später eine Gastwirtin, die ich nach der besten hiesigen Zeitung fragte, es gebe nur schlechte – der Inhaber eines Zeitungskioskes bestätigte das und erklärte mir, das kulturelle Leben stagniere auf die Dauer in einem so kleinen Land, das nach heldenhafter Erringung der Unabhängigkeit sich zu sehr auf seine Identität verlasse; beide Äußerungen fand ich hoffnungsvoll offen. Der Lebensstandard schien etwas niedriger, die Preise waren etwas höher als in Argentinien.
Weiter draußen befinden sich ein interessantes Geschichtsmuseum und das Kunstmuseum, in dem wir bei unserer ersten Reise nur kurz abends waren, ein vor 30 Jahren moderner Bau in einem großen, etwas zerrupften Park: die wenigen (inländischen) BesucherInnen und die Kustodinnen waren schick und teilweise miteinander bekannt, offenbar eine gesellschaftlich gehobene Insider-Gruppe (wiederum: eine kleine Welt?); gute Maler.
Auf dem Rückweg 177 km mit schnellem Bus entlang der stark bebauten Küste, unter den Siedlungen auch schweizerische, nach Colonia (del Sacramento), einer portugiesischen Gründung des 17. Jahrhunderts. Hübsche alte Häuser, klein und hell, stehen unter Bäumen an ruhigen Straßen, sehr sympathisch. Zu besichtigen sind das interessantes historische Museum sowie das Haus des irischen Admirals Brown, der die uruguayische Flotte (und die brasilianische, unter der Erzherzogin Leopoldine, der Frau Pedros I.) errichten half. Die Villa ist niedrig, wie alle Bauten außer der ebenfalls bescheidenen Kirche. (Eine französische Familie, welche diese Stätten ebenfalls besichtigte – wieder einmal waren Franzosen überdurchschnittlich interessierte Touristen – sprach die Kustodinnen allerdings ganz selbstverständlich auf Französisch an, was zu Schwierigkeiten und gutmütigem Spott seitens der uruguayischen Damen führte.)
Abends nahm ich Fähre nach Buenos Aires, von wo ich zwei Tage später nach Europa zurück flog.
Fauler Zauber? - die Karibik
Auf Martinique (einem Überseedepartement Frankreichs) ist „französisches“ Verhalten auch bei Schwarzen zu beobachten: schon bei der Einreise fragte mich der schwarze Zöllner (in eleganter Khaki-Uniform mit Képi), der meine Bücher begutachtete: „Ah, vous lisez Glissant, monsieur?“ und sagte auf mein schüchternes Ja, das sei doch ein guter Autor der Antillen: „Ah oui, monsieur, lisez, lisez toujours!“ – Beim Hotelfrühstück frage ich nach der Milch, und die (schwarze) Kellnerin antwortet schnippisch, das habe sie mir schon einmal gesagt (es war natürlich ein anderer Tourist, aber die Weißen schauen eben auch alle gleich aus); dieselbe Frau kommt nachmittags auf die Veranda, wo ich lese, und fegt; ich frage sie nach ihrer Arbeitszeit, diese ist gleich um, ihr Verlobter sollte schon die Straße herunter kommen, sie abzuholen. Auf meine Frage, ob dort oben an der Straße nicht (der politisch engagierte Dichter) Aimé Césaire wohne, antwortet sie: „Eh oui, und er kann die Politik auch nicht lassen!“ – Elegante Hochzeitsgesellschaft von MulattInnen mit lässig-schönen Bewegungen vor einer Kirche im etwas schäbigen alten Stadtzentrum; einige ältere kleine Häuser in Fort-de-France haben keinen Tropenstil, sondern den eines nordfranzösischen Provinznestes der 60e Jahre; schöner großer Wiesenplatz La Savane.
Auf dem kleinen Nevis (von Kolumbus übersetzt „Maria Schnee“ genannt), einem kompakten grünen Kegel, eine Admiral-Nelson-Gedenkstätte ohne andere Touristen: das Kirchlein, in dem er heiratete. Die Hauptstadt ein Dorf, in dem es nur ein hektographiertes Wochenblatt der Pfarrei gibt. Außerhalb des Ortes führt eine stille Landstraße in der Hitze des Tages zwischen tropischen Bäumen um die Insel.
Ich mache schon bald an einem Strand Halt, ohne jedoch über den schmutziggrauen Sand in das warm plätschernde Wasser zu gehen, bleibe lieber im Schatten der Palmen. Da nähert sich mir eine (nicht mehr ganz) junge Frau (ich bin ja aber „schon“ 52) in einem einfachen Kleid mit ein paar Löchern und fragt mich, ob ich mit dem Schiff gekommen sei: Nein, mit dem Flugzeug, und nicht von (der Nachbarinsel) St Kitts, da wolle ich erst hin. Ob ich an Geister glaubte – die gleiche Frage hatte mir schon einmal jemand gestellt, ein Schotte, der mich in seinem Auto von Edinburgh nach Durham mitnahm und an Geister glaubte, und ich antwortete wieder: Ja, also, Katholiken glaubten an Schutzengel. Ob ich glaubte, dass Geister auch Böses täten, eine Verwandte sei nämlich vor einiger Zeit mit dem Schiff nach St Kitts untergegangen, und jetzt sei gerade ein Vetter auf dem Schiff dorthin. Ich fragte die Frau, ob ihre Familie mit irgendwelchen der Geister besondere oder gar problematische Beziehungen habe, – wenn ja, könne man Verfehlungen bereuen und so wieder ein gutes Verhältnis herstellen; aber sie konnte sich keiner Besonderheiten entsinnen, und so meinte ich, wenn jene Geister überhaupt Unglück bringen wollten, dann sei es doch unwahrscheinlich, dass sie zweimal so bald hintereinander bei derselben Familie zuschlügen. Das schien die Frau zu beruhigen und sie ging mit guten Wünschen ihres Weges.
Mir wollte scheinen, dass es die Bewohner der (noch immer) französischen Inseln besser hätten als die auf den ehemals britischen, die ja mindestens ebenso weiter ausgebeutet werden (wenn die Antillen es überhaupt noch werden), ohne aber die sozialen Einrichtungen des „Mutterlandes“ zu genießen. Wenn Frankreich aus den ehemaligen Sklaven Franzosen machen wollte, deren Afrikanertum also gefährdete, so hatte die britische Toleranz (die ja auf der Gleichgültigkeit derer beruht, die andere für unfähig halten, je das eigene Niveau zu erreichen) doch kaum afrikanische Kultur bewahrt, denn diese war ja schon abhanden gekommen, gleichsam bereits auf den Sklavenschiffen. Manchmal konnten (entlaufene) Sklaven dann selbst eine eigene Kultur hervorbringen, welche mit Hilfe herübergeretteter afrikanischer Elemente mehr darstellte als nur eine Lumpen-Variante der europäischen Zivilisation. So wohl in Jamaika, wo ich aber (im Gegensatz zu unserem Sohn) auf einer Fahrt durch das gebirgige Landesinnere nicht viel von der Kultur der „Maroons“ mitbekam – und an dessen Armut und Kriminalität nicht erinnert werden muss.
Aber Haiti! Es hat in seiner schon 200 Jahre alten Eigenstaatlichkeit (um nicht zu sagen: Unabhängigkeit) kreolisierte Varianten afrikanischer und französischer Kultur bewahrt, ist aber dabei in tiefe Armut gestürzt.
Mein Zimmer war im alten Nobelhotel Oloffson, einem schönen, geräumigen Holzgebäude im Zuckerbäckerstil, das Graham Greene bewohnt hatte, und in dessen Bar mit großen Korbstühlen sich am späten Nachmittag auch Mitglieder der „guten“ Gesellschaft von Port-au-Prince versammelten. Die gewöhnlichen Stadtbewohner waren so arm wie die der Elendsviertel von La Paz; die meist hölzernen Häuser an den selten geteerten Straßen halb verfallen, die Gehsteige schief und an den Rändern abgebrochen, überall rötlicher, verschmutzter Staub. Groß und weiß der Präsidentenpalast auf verbrannten Rasenflächen; hier residierte Aristide, die damalige Hoffnung der Armen.
Eine Busfahrt nach Cap-Haïtien an der Nordküste führte durch abgeholztes, rotbraunes Land; die Erosion hatte die Armut der Kleinbauern noch verstärkt: nach dem Befreiungskrieg der Sklaven um 1800 hatten diese das Plantagenland unter sich aufgeteilt und statt Zucker Feldfrüchte für den Eigenbedarf angebaut; aber die ohnehin kleinen Grundstücke wurden bei zunehmender Bevölkerung ganz unzureichend, und die korrupten (schwarzen) Diktatoren, die mit wenig besseren Präsidenten aus der mulattischen Oberschicht abwechselten, stürzten dies erste frei gewordene Land der Schwarzen ins Elend: den Größenwahn seiner Kaiser konnte ich in dem mächtigen Bau der „Citadelle“ bewundern. – Im Bus ging es auch wieder zurück, ständig mit den Staubwolken der vor uns auf dem unebenen Boden schaukelnden Fahrzeuge – alle fuhren in ständigem Slalom um die Schlaglöcher herum, zum Glück langsam, und die Leute waren gutmütig, wie auch sonst im Alltagsleben (d.h. außer bei politischen Konflikten; damals mindestens gab es kaum private Kriminalität): der eine weitere weiße Tourist, noch älter als ich, erhielt einen bequemen Sitz neben dem Chauffeur, und hinten im Bus sangen Nonnen Gebete.
In einer Nacht fiel im Hotel der Strom für eine Weile aus, worauf ein alter Diener Kerzen und gekühlte Getränke auf die Zimmer brachte. Am Tag danach wurden wir davor gewarnt, das Hotel zu verlassen, da nach einem angeblichen Putschversuch gegen Präsident Aristide die Stadt in Aufruhr sei. Ich war froh, die Besichtigungen (so des Kunstmuseums: naive Malerei) schon gemacht zu haben, fürchtete aber, bei Schließung des Flugplatzes und Ausfall des nächsten wöchentlichen Fluges nach Jamaika nicht so bald von hier weg zu kommen. – Nach dem Mittagessen schaute ich mit einem Amerikaner von der Veranda auf die Meeresbucht weit unten. Er hatte hier schon einmal einen Putschversuch miterlebt, damals gegen den Diktator „Papa Doc“. Die zwei Schiffe der Kriegsmarine waren in See gestochen und hatten den Präsidentenpalast unter Beschuss genommen. Als aber die (wenigen) Flugzeuge der Luftwaffe versuchten, sie mit Bomben zu versenken, gaben sie auf und fuhren ins Asyl nach Miami. Den Familien der putschenden Offiziere geschah nichts, aber die Familien der viel zahlreicheren Matrosen wurden, obwohl unschuldig, von den „Tontons Macoute“ des Diktators ermordet. So verliefen viele lateinamerikanische Putschversuche, ohne Verantwortungsbewusstsein bei ihren Anführern.
Am Nachmittag kam ein englischer Gast aus der Stadt, um den man sich schon Sorgen gemacht hatte: er wusste von alledem nichts, und sagte, nun könne er sich die Haufen von Autoreifen mit jeweils vielen Leuten dabei erklären. Scherzte er? Aber dieser „typische“ Engländer hatte mir auch erzählt, er sei hierher gekommen (und verdiene inzwischen seinen Lebensunterhalt mit Englischstunden), da er, wie so mancher sehr englische Engländer, nicht mehr in England habe leben wollen. So habe er seinen Laden verkauft und sich dafür „ein Segelboot gekauft“. „Und die Reise hierher?“ fragte ich. „Eben in dem Segelboot“: er war allein über den Atlantik gesegelt.
Gegen Abend hatte sich die Lage beruhigt, die einheimische Oberschicht wagte sich aus ihren Villen zur Bar des „Oloffson“. Ein kleiner älterer Herr mit blanker Glatze und Spazierstock, das Beige des leichten Anzugs in eleganter Kombination mit seiner Hautfarbe, war eine der Berühmtheiten dieser mindestens zahlenmäßig beschränkten Kreise. Er kam auf mich zu und fragte mich, ob ich in Wien einen gewissen hochgestellten Exilanten kennen gelernt hätte. Als ich bejahte (wir wollten jenen Herrn zu einem Vortrag ins Institut für Romanistik einladen, wie auch Südamerikaner und westafrikanische Studenten; letztere aber stritten sich dabei so, dass wir die Aktion abbrachen), sagte mir mein Gegenüber unverändert soigniert, ich wisse aber wohl nicht, dass jener inzwischen tot sei. – Nein, das hatte ich nicht gewusst. (Auch wusste ich nicht, warum sich dieser Herr dafür interessiert hatte, woher ich war.)
Erstmals ging ich nun an die Bar und trank vier „Planter´s Punch“; zuletzt empfahl mir ein anderer (weißer) Trinker, „die Struktur meiner Sexualphantasien zu ändern“. Ich ging auf mein Zimmer und fand, ich müsse noch bei einer Zigarre etwas lesen. Als ich mich danach hinlegte, merkte ich, dass sich die Wände des Zimmers langsam drehten. Das erlebte ich jetzt also doch einmal! Es hörte kurz auf, begann aber wieder, und ich wollte versuchen, es durch Erbrechen zu beenden. Als ich aber vor dem Waschbecken stand, hörte es überhaupt auf.
Am nächsten Vormittag erfuhr ich zu meiner Erleichterung, dass der Flugplatz nicht gesperrt sei. Dann kam eine Amerikanerin zu meinem späten Frühstück auf die Veranda, setzte sich und brach in Tränen aus. Sie war mit ihrem Auto auf der Fahrt zu einem Dorf, für das sie ein Hilfsprogramm organisiert hatte, an einer Straßensperre angehalten worden, und die Gendarmen hatten sie zurückgeschickt, weil sie sich nicht verständigen konnten. Ich fühlte mich stark und willigte ein, sie auf einem zweiten Versuch mit meinem Französisch zu begleiten. Die Gendarmen erwiesen sich als sehr höflich, sie wollten einfach nur unsere Ausweise sehen. Wir besuchten das Dorf, alles war hochzufrieden, und die wirklich sonst recht tüchtige Dame fuhr dann noch mit mir an den sauberen Strand von Jacmel, einem Ort mit hübschen Villen.